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Zur Problematik der familialen Sozialisation

Zur Sozialisation als gebrauchswertorientierte Produktion, Hausfrauenarbeit und den Funktionswandel der Frau als Arbeitskraft

Nach einer Bestimmung von Karl Marx wird Arbeit als ein Prozeß zwischen Mensch und Natur bestimmt, in dem der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur als seine eigene Tat vermittelt und kontrolliert. Dabei verändert der Mensch durch die Arbeit nicht nur die äußere Natur, sondern zugleich seine innere Natur.

Für Lorenzer ergeben sich zwei Seiten eines Problems, einmal die Sozialisation im bzw. am Produktionsprozeß durch Erziehung der heranwachsenden Kinder. Beides kann gleichgesetzt werden mit der Auseinandersetzung der äußeren bzw. der inneren Natur.

Nach Habermas wird die Art und Weise des primären Sozialisationsvorgangs durch die Grundstruktur der Kernfamilie festgelegt. Durch die Identifikation mit den Eltern erlernt das Kind seine Geschlechts- und Generationsrolle.

Nach Ute Volmberg werden Individuen in vorhandene System gesellschaftlicher Art hineingeboren. Der Sozialisationsprozeß soll im Interesse gesamtgesellschaftlicher Produktion und Reproduktion identische Individuen und spezifische Arbeitsvermögen produzieren.

Unter dem spezifischen Arbeitsvermögen ist nicht nur eine durch das Ausbildungssystem vermittelte Berufsqualifikation zu verstehen, sondern als Ergebnis primärer und sekundärer Sozialisationsprozesse bestimmte Anpassungsmechanismen, die die Individuen erst befähigen, unter den Bedingungen der Entfremdung zu produzieren.

Unter Identität ist die psychische Struktur zu verstehen, die gewisse Arbeits- und Lebenserfahrungen integriert und die gleichzeitig in die Lage versetzt, die so zu verarbeiten, daß diese psychische Struktur unter jeweils gegebenen historischen Bedingungen erhalten bleibt.

Die Einheit der Bildung von Identität und Arbeitsvermögen ist auf der Stufe der kapitalistischen Produktionsweise nicht mehr anzunehmen. Die Bedingung, räumlich gleichzeitig zu produzieren und zu konsumieren, als produzierendes und sich selbst reproduzierendes Subjekt, ist aufgespalten.

In der vorkapitalistischen Gesellschaft findet die Produktion und Reproduktion noch an ein und demselben Ort statt. Das Produktionsprinzip, Tausch oder Aneignung durch Entäußerung, gilt noch nicht. Die meist kollektiv und gemeinsam bearbeiteten Produkte werden nur zum Selbstverbrauch bearbeitet und angeeignet. Bleibt ein Überschuß, kann er veräußert werden, falls ein Markt überhaupt schon existiert.

Im Kapitalismus wird vom Individuum nur noch das Äquivalent für die verausgabte Arbeitszeit angeeignet und stellt ein Mittel dar, seine Bedürfnisse nur noch außerhalb der Sphäre der Produktion über den Markt zu befriedigen.

Weil die Identitätsbildung nur auf der Einheit von Produktion und Aneignung denkbar und mit der kapitalistischen Warenproduktion unvereinbar ist, kann die dopelte Aufgabe - Produktion identischer Individuen und spezifischer Arbeitsvermögen - nur gewahrt bleiben, wenn in der Phase der Frühsozialisation die Gesetze der Warenproduktion in den subjektiven Bildungsprozeß nicht eingreifen.

Es bedarf also einer davon unabhängigen Entwicklungsphase. Für den frühkindlichen Bildungsprozeß heißt das: Einheit von Bedürfnisentwicklung und Bedürfnisbefriedigung. Wenn das Tauschprinzip nämlich auch den frühen Sozialisationsprozeß beherrscht. wird die Bildung von Identitätsvermögen und relativ stabiler Identitätsstrukturen geringer und halten den Belastungen industrieller Lohnarbeit nicht mehr stand. Psychotische Störungen nehmen zu und der Verlust der Identität ist mit dem Verlust der Arbeitsfähigkeit verbunden.

Lorenzer sieht den Bildungsprozeß subjektiver Strukturen im primären Sozialisationsbereich ausschließlich unter dem Aspekt des Produktionsprozesses als Produktion.

Individuelle Strukturen wie Es, Ich und Über-Ich müssen als "hergestellt" begriffen werden. Die Mutter-Kind-Dyade muß als Auseinandersetzung mit der Natur, als Teil der Produktivität der Produzenten der Gesellschaft begriffen werden, die außerdem nicht von der Auseinandersetzung mit der äußeren Natur getrennt werden kann.

Lorenzer bezeichnet jedoch die Sozialisation als einen besonderen Produktionsbereich, der anderen Gesetzmäßigkeiten unterliegt als eigentlich gemeinhin im Produktionsbereich dafür angesehen wird.

Die unterdrückte "Klasse" (die Frau) ist in diesem Bereich nicht identisch mit der Klasse der Lohnabhängigen. Dieser Bereich ist lediglich formell dem Kapital subsumiert (beigeordnet), ist jedoch nicht autonom und unabhängig. Beide Bereiche belagern und durchdringen sich.

Die Kinderkrippenschwester dann durchaus als Lohnabhängige eine "Mutterfunktion" wahrnehmen. Die Klassen können sich schneiden, als Beispiel die Fabrikarbeiterin, die zugleich Mutter ist oder die Frau des Bourgeois, die als Mutter eine abhängige Produzentin im Sozialisationsbereich ist.

Obwohl die Produktion von individuellen Strukturen später dem Kapitalverwertungsprozeß dient, muß doch eine Eigenart dieses besonderen Produktionsbereiches erwähnt werden. Lorenzer stützt sich dabei im wesentlichen auf Horkheimer und Negt/Kluge, die meinen, es sei bei einer gelungenen Mutter-Kind-Beziehung ein Rest matriarchalischer Produktionsweise vorhanden. Es behauptet sich hier eine auf Bedürfnisbefriedigung gerichtete Produktionsweise der Frau, die das Kind nach seinen Fähigkeiten behandelt und seine Bedürfnisse um jeden Preis gegenüber einer patriarchalen und kapitalistischen Umwelt stillt.

In der Primärsozialisation, in der es auf die Ausbildung der Lern- und Erfahrungsfähigkeit ankommt, stößt die Durchdringung der kapitalistischen Warenproduktion auf Grenzen.

Die frühkindliche Sozialisation in der Kleinfamilie hat einen doppelten Charakter. Einerseits Schutz des Lebens gegenüber dem Arbeitsprozeß, andererseits Zurichtung der Ware Arbeitskraft für den kapitalistischen Verwertungsprozeß. In der Mutter-Kind-Beziehung erhalten sich Reste der vorindustriellen auf Bedürfnisbefriedigung durch reale auf Gebrauchswerte beruhenden Produktionsweise.

Diese lassen sich auch dann nicht auf Tauschbeziehungen reduzieren, wenn alles andere in dem Familienhaushalt darauf beruht (z. B., daß durch Haushaltsgeräte, die auf dem Markt getauscht werden, die Hausfrauenarbeit, die ja noch einen Gebrauchswertcharakter hat, auf ein Minimum reduziert wird. Dies hat wieder zur Folge, daß die Frau aufgrund der zusätzlich gewonnenen Zeit die Möglichkeit besitzt, sich wieder in den kapitalistischen Produktionsprozeß eingliedern zu lassen. Dazu aber noch weiter unten).

Dabei ist die Familiensozialisation alles andere als einheitlich. Die Mannigfaltigkeit der Erziehungsformen, autoritäre und antiautoritäre, ist eine Folge des privaten Charakters der Kindererziehung. In dieser privaten Form können sich allerdings ihre emanzipatorischen Elemente auch nicht gesellschaftlich auswirken. Die familiale Sozialisation ist ausgegrenzt aus den Verflechtungen gesellschaftlich organisierter Arbeit.

Sozialisation als Produktion ist trotzdem gesellschaftlich bedingt. Sie folgt Regeln, die nicht nur eine "Übereinstimmung der Produkte" (gleiches Erziehungsverhalten gegenüber Kindern) garantiert, sondern auch die Produzenten (Mütter) austauschbar macht. Die individuelle Mutter kann ohne "Kulturbruch" durch andere Bezugspersonen (z. B. Amme/Kindererzieherin) ersetzt werden.

Wie schon oben angegeben, wird nach Heinsohn/Knieper die notwendige Arbeitsleistung besonders im kinderlosen Haushalt durch die Technisierung immer geringer. Ein Verbleiben der Frau im Haushalt kann nicht mehr durch die vom Mann in Anspruch genommene Arbeitsleistung erklärt werden. Lediglich das Erziehen der Kinder treibt die erforderliche Arbeitszeit besonders in den ersten Lebensjahren in die Höhe. Wenn die Kinder später in den Kindergarten oder in die Schule gehen, wird die Frau arbeitszeitmäßig wieder entlastet.

Die Arbeitsleistung, die die Frau im Haushalt und in der Kindererziehung vollbringt, wird nicht vergütet. Ihre Stellung in der Familie ist nicht durch einen Tauschvertrag, sondern durch ein Treuegelöbnis bestimmt, welches sie weitgehend von der Willkür ihres Mannes abhängig macht.

Wie schon oben angedeutet, ist die Hausfrauenarbeit noch echt gebrauchswertbezogen, aus diesem Prinzip heraus ermöglicht sie auch vorrangig die Bedürfnisse des Kindes zu befriedigen, ohne daß von diesem weder eine Gegenleistung erwartet werden kann noch daß dieses möglich ist.

Interessant ist auch der Versuch, Hausfrauenarbeit mit Lohnarbeit gleichzusetzen. Wie in Heinsohn/Knieper ausgeführt, schlägt sich dies z. B. in einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts wie folgt nieder, wonach die Frau verpflichtet ist, durch Arbeit zum Unterhalt der Familie beizutragen, in der Regel durch Führung des Haushalts, während der Ehemann durch Erwerbstätigkeit die notwendig baren Mittel bereitstellt. Diese Definition soll suggerieren, daß die Familie den Prinzipien des Äquivalententausches nachgebildet sei.

Der mit Konsumgüter - Licht, Wasser, Kleidung, Möbel, Haushaltsgeräte, Nahrung usw. - ausgestattete Haushalt soll den Schein einer der Lohnarbeit gleichwertigen Arbeit liefern, auch wenn nur sinnlose Arbeiten verrichtet werden. Ein Beispiel: Wenn die Hausfrau einen Kuchen bäckt oder einen Pullover strickt, scheint sie Waren zu produzieren, obwohl sie in Wirklichkeit nur wieder Konsumgüter mittels Konsumgüter in rückständiger Produktion selbst erzeugt. Im Laden hätte sie oft ihr Produkt als Ware wesentlich billiger haben können (man denke allein an die von ihr aufgewendete Arbeitszeit).

Wenn heute mit der Verallgemeinerung der Lohnarbeit auch die traditionelle bürgerliche Familie aufgehoben wird, dann verschwindet mit ihr auch die Funktion der Hausfrau und Mutter, zu der als Mädchen Frauen von klein auf an erzogen wurden und die dann später als Ehefrauen ökonomisch unter dem Preis der Abhängigkeit auch abgesichert wurden.

Das Eintreten der Frauen in die eigentliche Erwerbstätigkeit erforderte dann ja auch die spezielle Ausbildung subjektiver Strukturen, mit denen später die Lohnarbeit bewältigt werden kann.

Da die Frauen auf dem Arbeitsmarkt konkurrenzfähig bleiben müssen, bedeutet die Geburt eines Kindes und seiner Erziehung eine erhebliche Beeinträchtigung ihres Wertes als Ware Arbeitskraft.

Die weibliche Emanzipationsbewegung stellt sich u. a. als einen Versuch dar, ihre Benachteiligung als Frau abzustreifen, um als Lohnarbeiterin vor allem in der Konkurrenz gegenüber Männern bestehen zu können.

Weil aber für den kapitalistischen Produktionsprozeß Nachwuchs erforderlich ist, muß für seine Erziehung ein gesellschaftlicher Ort geschaffen werden, wo die Sozialisation des Kindes unabhängig und ungestört von der allgemeinen Konkurrenz erfolgen kann. Da dieses aber mit gewaltigen Kosten verbunden ist, werden insbesondere unter Anwendung völkischer und klerikaler Ideologie versucht, materielle Anreize durch den Staat zu schaffen, damit die Frauen in ihre Mutterschaftsfunktionen zurückgetrieben werden.

Solche Versuche treffen heute jedoch immer mehr auf Frauen, die bereits in Lohnarbeit stehen. Sie haben auch noch zusätzlich durch fortschrittliche Verhütungsmethoden die Freiheit gewonnen, ihre Geschlechtslust zu befriedigen, ohne schwanger zu werden.

Außerdem erreicht die Frau durch ihre Teilnahme am Produktionsprozeß zunächst teilweise oder ganz die materielle Unabhängigkeit von ihrem Mann. Es muß jedoch ebenso gesehen werden, daß nur bedingt ihre billige und anpassungsfähige Arbeitskraft - aufgrund ihrer im Sozialisationsprozeß verinnerlichten Rolle als Hausfrau und Mutter - gebraucht wird. Denn sie stellt ähnlich wie die der ausländischen Arbeitskräfte einen wichtigen Anteil an der modernen industriellen Reservearmee dar.

Ob sie nun als Hausfrau oder als Lohnarbeiterin tätig ist, hängt oft nur davon ab, ob Hochkonjunktur oder gerade eine Krisensituation vorherrscht. Die Familienstruktur muß also auch stets abhängig von der gesellschaftlichen Produktionsweise gesehen werden. Selbst der "Beruf" Hausfrau und Mutter ist historisch gesehen relativ neu, dessen Wurzel in der durch die Industrialisierung verursachten Trennung von Produktion und Konsumption zu suchen ist.

Heute hat sich diese Trennung insofern wieder verschoben, weil sie teilweise oder oft unter der Doppelbelastung von Beruf und Haushalt steht. Durch die Übernahme von "Mutterfunktionen" durch gesellschaftliche Institutionen, wird sich dieses möglicherweise auch wieder zugunsten des Berufes verschieben. Aber erst mit der Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise wird zwangsläufig auch die bürgerliche Familienstruktur geändert werden können.

© HANS-JÜRGEN HANSEN

Entstanden als Klausurarbeit im Fach "Sozialisation und Erziehung" im WS 1976/77 an der Hochschule für Wirtschaft und Politik in Hamburg. Eingestellt: 27. 12. 1999


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