Ferdinand Tönnies

Ein großer Haubarg in Eiderstedt und ein herrschaftliches Haus in Husum, das sogenannte Cornilsche Kavaliershaus in unmittelbarer Nachbarschaft zum "Schloß vor Husum", prägten die Kindheit und Jugend des am 26. Juli 1855 geborenen Soziologen Ferdinand Tönnies. Bereits mit 16 Jahren besaß er sein Abitur, mit 22 Jahren promovierte er und reichte schon mit 26 Jahren seine Habilitationschrift ein. Dem frühreifen Tönnies blieb allerdings der unmittelbare Anschluß einer Universitätslaufbahn versagt. Viele Jahre des Wartens im Status als Privatgelehrter und Privatdozent wurden ihm nicht erspart.

Früh schon beschäftigte er sich neben der Philosophie Thomas Hobbes' und Friedrich Nietzsches mit den sozialen Theorien von Karl Marx. Vor allem Marx beeinflußte ihn in stärkerem Maße, sich mit der "sozialen Frage" der Arbeiterklasse auseinanderzusetzen. Tönnies erlebte hautnah den Hamburger Hafenarbeiterstreik von 1896/97 und trat zusammen mit einigen anderen sozial eingestellen Wissenschaftlern öffentlich für die Streikenden ein und verfaßte über die Ereignisse eine umfangreiche wissenschaftliche Analyse. Sein Eintreten für die im Hafen Arbeitenden hat ihm geschadet, unterbrach seine wissenschaftliche Laufbahn. Dennoch stand er innerlich der sozialdemokratisch orientierten Arbeiterbewegung nicht sehr nahe, ebensowenig wie er Marx' Kapitalismus-Analyse in allen Punkten teilte. Erst 1930, im hohen Alter also, entschloß Tönnies sich angesichts des Vordringens der nationalsozialistischen Bewegung zu folgenden zwei ungewöhnlichen Schritten: Er trat der SPD bei, gleichzeitig trat er aus der Kirche aus.

Bis er eine Professur in Kiel erhielt, mußte Tönnies sich finanziell als Verfasser von Beiträgen für eine Reihe von Zeitschriften übers Wasser halten. Unter dem Pseudonym "Normannus" erschienen z. B. für die monatlich erscheinende Zeitschrift "Das freie Wort" etliche politische Artikel. Darin äußerte er sich u. a. 1908 mehrmals über die damals im deutschen Kaiserreich aufsehenerregende Amtsenthebung des Husumer Bürgermeisters Lothar Schücking, der zuvor eine anonyme Schrift unter dem Titel "Die Reaktion in der inneren Verwaltung Preußens" veröffentlicht hatte.

1908 war auch das Jahr, in dem Tönnies ebenso wie Schücking in einem anderen Wahlkreis für die "Freisinnige Volkspartei" versuchte, ein preußisches Landtagsmandat für seinen Heimatwahlkreis Husum-Eiderstedt-Friedrichstadt zu erhalten. Er erzielte zwar einen Achtungserfolg, unterlag aber dem Kandidaten der "Nationalliberalen Partei". Um ein Haar hätte er gegen seinen eigenen Bruder kandidieren müssen, der Mitglied und eine Zeitlang auch Abgeordneter dieser Partei gewesen war.

Tönnies erhielt im Jahre 1909 eine außerordentliche Professur in Kiel, die drei Monate später sogar in eine ordentliche Professur umgewandelt wurde. 1909 wurde von ihm und anderen Soziologen die "Deutsche Gesellschaft für Soziologie" ins Leben gerufen und ein Jahr später, 1910 der "Erste Deutsche Soziologentag" veranstaltet. 1912 wurde sein 1887 entstandenes Hauptwerk "Gemeinschaft und Gesellschaft" neuaufgelegt, die acht Auflagen bis zu seinem Tode am 11. April 1936 erreichte. In der Weimar Zeit nach dem verlorenen 1. Weltkrieg setzte sich Tönnies sehr für den Erhalt und Ausbau der jungen aber gegenüber reaktionären Kräften anfälligen Demokratie ein. Es schmerzte ihn schließlich schwer, daß undemokratische Kräfte die Oberhand gewann mit der Folge, daß die Nationalsozialisten ihn nach 1933 aus dem Staatsdienst entfernten, so daß er im hohen Alter nochmals am eigenen Leibe unter Geldnot leiden mußte. Zwar veröffentlichte Tönnies noch einiges, aber um ihn herum wurde es still. Eine Krankheit im Frühjahr 1936 hatte er dann nicht mehr überstanden. Ferdinand Tönnies starb 81jährig am 9. April 1936 in Kiel und wurde auf dem Friedhof "Eichhof" in Kiel beigesetzt.

Tönnies wird heute immer wieder gerne unter das Bild eines Gelehrten gesteckt, der "hinterm Nordseedeich mit friesischen Grassoden die urbane Modernität verpflastern will". Tönnies wird zudem häufig als Idylliker, als "konservativer alter Mann", als ein Sozialromantiker beschrieben, dem die "heile Welt" verlorengegangen ist, der mit "Grausen vom modernen Berlin, seinem Lärm und Gestank" dachte. (S. 57) Dennoch ist dieses Bild falsch. Tönnies ist alles andere als ein verstiegener Sozialromantiker. Zwar sind manche seiner Einfälle und Notizen auf seinen Deichwanderungen in Nordfriesland, manche auf Sylt entstanden, die Insel, die er seiner Kopfschmerzen halber aufsuchte. Manches trug er auch während der Fahrt auf der Eisenbahn in seine Notizbücher ein. Der von ihm geprägte Begriff "Gemeinschaft" entspricht jedoch absolut nicht einer Idylle. Denn die Sittlichkeit der Sitte ist eigentümlich, daß erbarmungslos mit Opponenten umgegangen wird. Unter Umständen mag darin der sozialpsychologische Grund zu suchen sein, daß befreiende Ausbrüche in Richtung "Gesellschaft" unternommen wurden. (S. 58)

Das Leben selbst verläuft für Tönnies nicht konfliktfrei und harmonisch wie im Begriff des "Sozialen". Dennoch, jedesmal wenn Soziales entsteht, entsteht auch A-Soziales, also etwas Ausgegrenztes, Verneinung. Es ist ein Irrtum zu glauben, durch die Bildung von immer mehr Sozialen könne das A-Soziale aus der Welt herausorganisiert werden. (S. 58 f.) Es ist nur der neutralisierenden Sicht eines Wissenschaftlers zu verdanken, wenn dieser sich bemüht, "alle irrationalen und minder rationalen Gedankenbildungen" psychologisch "verstehen" zu wollen. Als ob es niemals etwas schlechthin unvernünftig sein könne, ihren eigenen Sinn haben müsse und nicht zuletzt auf menschliches Wollen zurückzuführen sei. (S. 61) Der Gegenstand der Soziologie ist nach Tönnies das Soziale am Leben, nicht das Leben allgemein. (S. 65)

Heute steht der Name Ferdinand Tönnies im Gegensatz zu Max Weber und der neuerlichen Wiederentdeckung Georg Simmels merkwürdig fern der wissenschaftlichen Diskussion in der Soziologie und in der Philosophie. Doch könnte er im Zusammenhang mit der angelsächsischen zivilgesellschaftlichen Kommunitarismus-Debatte doch wieder aktuell werden. Bisher wurde er zwar in vielen soziologischen Abhandlungen pflichtgemäß in der Reihe mit anderen soziologischen Klassikern abgehandelt. Aber nachdem beiläufig das Gegensatzpaar "Gemeinschaft" und "Gesellschaft" gefallen ist, wird schnell zur eigentlich Tagesordnung übergegangen. Möglicherweise würde Tönnies heute anders gewichtet und die Wirkung seines soziologischen Werks eine andere sein, wenn im Dritten Reich der Nationalsozialismus nicht die ganze soziologische Tradition, von Ausnahmen abgesehen, ausgelöscht oder in die Emigration gezwungen hätte. Lediglich das soziologische Werk Max Webers konnte über den Umweg der amerikanischen Soziologie und über die ebenfalls emigrierte Kritische Theorie der Frankfurter Schule in der Bundesrepublik wieder Fuß fassen.

Der wissenschaftliche Standort von Tönnies Theorie läßt sich wie folgt darstellen: Er unterscheidet in der Soziologie die drei Bereiche reine, angewandte und empirische Soziologie. Die "reine" Soziologie faßt er als statische auf, die Begriffe der "reinen" Soziologie dienen ihm als theoretische Hilfsmittel, um die soziale Wirklichkeit in etwa annähernd erfassen zu können. Die von ihm geprägten Begriffe "Gemeinschaft und Gesellschaft", "Wesenwille und Kürwille" sind für ihn idealtypische, sich gegenseitig ausschließende gedankliche Konstruktionen, die er ähnlich wie bei Max Weber aus historischem Material gewann. Dennoch sind auch die festehenden Begriffe der reinen Theorie Veränderungen unterworfen, d. h. sie müssen entsprechend der wechselnden historischen Wirklichkeit immer wieder geändert werden. Das Wandelnde der geschichtlichen Prozesses bedarf als Konstantes der Erklärung. Was sich wandelt, ist die menschliche Gesellschaft und nicht ihre Begriffe, die nur abgeleitet sind.

Gegenüber der statischen Begrifflichkeit der "reinen" Soziologie ist die "angewandte" Soziologie eine dynamische Theorie historischer Prozesse. Tönnies versucht die Gesellschaft in ihrer geschichtlichen Entwicklung mittels des deduktiven Vorgehens der angewandten Soziologie zu begreifen. Er wollte sich des Mittels rationaler Deutung bedienen, um alle ihm zugänglichen positiven Beziehungen der Menschen zueinander zu erklären. Mit Hilfe der Begriffe der "reinen" Soziologie, die ja eigentlich Konstrukte sind, die die soziale Wirklichkeit nur annähernd erfassen können, wollte er die gewaltige Umwälzung der westlichen Gesellschaft vom Mittelalter in die moderne Neuzeit deutlich machen. Die idealtypisch angelegten Begriffe der reinen Soziologie sollten wie eine Meßlatte auf die gesellschaftliche Wirklichkeit angelegt werden. In diesem Prozeß sind auch die feststehenden reinen Begriffe Veränderungen unterworfen, sie müssen entsprechend der wechselnden Wirklichkeit geändert werden. Aber: das Wandelnde der geschichtlichen Prozesse bedarf der Erklärung und nicht die Begriffe von der menschlichen Gesellschaft. Die "empirische" Soziologie verfährt wiederum induktiv und erforscht die Gesellschaft mittels statistischer und soziodemographischer Methoden.

Vergegenwärtigt man die Unterscheidung von "reiner", "angewandter" und "empirischer" Soziologie, so wird auch deutlich, daß die Begriffspaare "Gemeinschaft" und "Gesellschaft" wie auch die von Tönnies geprägten und uns so befremdlichen Begriffe "Wesenwille" und "Kürwille" der Begrifflichkeit der "reinen" Soziologie zugehören und als reine Konstrukte sich gegenseitig ausschließen. Einen anderen Stellenwert erfahren aber diese Begriffe, wenn sie innerhalb der "angewandten" Soziologie mit der sozialen Wirklichkeit verglichen werden. Als dynamische Theorie der historischen Begriffe geht sie über eine statische Theorie der Begriffe hinaus. Tönnies hat beide Ebenen immer klar geschieden. Er versuchte eben nicht, wie Helmuth Plessner und Leopold von Wiese meinten, den Eindruck zu erwecken als hätte es "Gemeinschaft" oder "Gesellschaft" wirklich gegeben oder "Gesellschaft" hätte sich naturwüchsig aus "Gemeinschaft" entwickelt.

Der Agent sozialen Wandels ist die widersprüchliche Natur im Menschen. Der Mensch, der nach Eintracht strebt, wirkt ihr zugleich entgegen. Diesem Widerspruch entspringt auch der Fortschritt. Für Tönnies treffen beide Prinzipien gleichermaßen zu: das soziale und das unsoziale Wesen des Menschen. Nach Aristoteles ist der Mensch ein soziales Wesen, nach Hobbes seiner Natur nach aber unsozial. Ursprünglich wurde der Mensch in eine Gemeinschaft hineingeboren, deren erste Stufe die Familie ist. Das menschliche Verhalten innerhalb der engeren Familie ist noch natürlich. Auch das Zusammengehörigkeitsgefühl unter Verwandten und Freunden ist total und keiner Infragestellung unterworfen. Hier siedelt Tönnies den auf die Einheit von Wollen und Denken gründenden Begriff des "Wesenswillen" an, der auf gemeinsame Empfindungen wie Gefallen, Gewohnheit oder Gedächtnis beruht und dem schließlich auch Gesinnung und Gewissen entspringt. "Gemeinschaft" und "Wesenwille" zeichnen als das Ursprünglichere die Einheit von Leben und Denken in Persönlichkeit und Kultur. Der Mensch ist ganz, wenn sich Mittel und Zweck einschließen.

Dagegen sind "Gesellschaft" und "Kürwille" Bewegungsmomente des sich ausdifferenzierenden und fortschreitenden sozialen Lebens, in welcher sich Mittel und Zweck ausschließen. Die Entwicklung geht von der Einheit in die Individualität. Alle daraus folgenden Bindungen werden aufgelöst. Gerade deswegen ist man aber bestrebt, die verlorengegangene natürliche Einheit durch freien Entschluß wieder herzustellen. Der "Kürwille" als das auf Überlegung beruhende zweckorientiertes Handeln führt zu "Gesellschaft". Er beherrscht dadurch das menschliche Verhalten, weil er ein Zweck, ein Ziel verfolgt. Um ein Ziel zu erreichen, sind ihm alle dem Zweck dienende Mittel recht, auch wenn sie mit den Begriffen Gefallen, Gewohnheit und Gewissen im Widerspruch stehen. Während in der Liebe der Mutter zum Kind noch Mittel und Zweck vereint sind, trennt das dem "Kürwillen" zugehörige Denken die Einheit von Mittel und Zweck.

Der Faktor des Denkens, der Vernunft also, gestaltet als dynamisches Element in zunehmender Weise das Handeln der Menschen. Es fördert sowohl die geistige Entwicklung des einzelnen Menschen wie auch jede Kulturentwicklung. Mit dem Denken verliert der Mensch die paradiesische Unschuld. Es gibt keinen Weg zurück, die Einheit von Emotion und Überlegung wird aufgegeben. Die Macht des Denkens über das Handeln vollendet sich in der Entfremdung des Menschen von sich selbst. Dieses Prinzip ist von Anfang an in der menschlichen Natur und in der in ihr begründeten Geschichte der Zivilisation enthalten und wird zur "zweiten" Natur des Menschen. Um die auflösende Kraft der Vernunft zu überwinden, muß das erkannt werden, was den Menschen zum Menschen macht. Die Vernunft muß aufhören, eine berechnende und zergliedernde Denkungsart sein zu wollen.

Die durch Austausch und Handel gekennzeichnete Gesellschaft gab es zu allen Zeiten. Dagegen ist die Ausbreitung des Kapitalismus und die damit verbundenen Überproduktionskrisen und der Kriege ein Merkmal der neueren Jahrhunderte. Kriege wurdeb auch früher schon geführt, aber ihre heutige Wucht erhielten diese erst, als in den fortgeschritteneren Stufen der kapitalistischen Gesellschaftsentwicklung der Industrialismus und der Militarismus ein "Bündnis" miteinander eingingen. Kapitalismus und Industrialismus bedingen einander. Karl Marx stand Pate, als Tönnies den Gedanken formulierte, daß die bestimmende Grundlage für den Begriff "Gesellschaft" in der "Enthüllung des ökonomischen Bewegungsgesetzes" zu finden ist.

Zwischen den Anschauungen Marx und Tönnies besteht der Unterschied lediglich darin, daß bei Marx Kapitalismus Gesellschaft, bei Tönnies dagegen Gesellschaft Kapitalismus hervorbringt. Der Individualismus der Gesellschaft bedingt ein Streben nach Gewinn und Ausbeutung. Güter werden Waren, Menschen Nummern, die Quantität überschattet die Qualität. Es ist schließlich die ausgebildete "Form" des Kapitalismus, die sich über die Gesellschaft stülpt und damit die Lebensform der Menschen prägt. Für Tönnies besteht trotz dieser Entwicklung dennoch kein Grund zum Pessimismus. Zwar ist die moderne Zivilisation mit ihren "großartigen" intellektuellen Errungenschaften im unwiderstehlichen Prozeß der Auflösung begriffen, aber es läßt sich auch eine entgegengesetzte Tendenz innerhalb der industriellen Entwicklung feststellen: Technik spart Arbeit und der Bereich der Freizeit wird erweitert. Um die immer komplizierter werdende Arbeit ausüben zu können, erfordert sie selbst eine größere Vorbildung und Fähigkeit zum selbständigen Denken. Die Zusammenarbeit in Werkgruppen und beruflichen Organisationen erhöht ebenso die Chance, daß die Ausbeutung der arbeitenden Menschen - wenn nicht verhindert- doch zumindest vermindert werden könnte. Wenn das Prinzip der Herrschaft durch das Prinzip der Genossenschaft ersetzt werden könnte, dann wäre nach Ansicht von Tönnies eine gerechtere und universelle Gesellschaftsordnung möglich.

Tönnies unterstellt indirekt den rationalen Handlungen der Menschen gewollte, nicht frei gewählte sondern determinierte Motive und er erweist sich dabei als ein Verfechter der deterministischen Willenstheorie. Zwei Willensformen sind möglich, einmal den eingebundenen Willen (Wesenswille), der auf gemeinschaftliche Formen menschlichen Zusammenlebens zurückgeht, zum anderen den freien Willen (Kürwille), der auf freier Entscheidung der lebenden Individuen in der Gesellschaft beruht.

Freie Entscheidungen und freie Handlungen lassen sich Tönnies zufolge jedoch immer rational nachvollziehen. Sie entspringen der Notwendigkeit menschlichen Handelns, wenn diese sich auch letzten Ursachen und oft jeder Erklärung entziehen. Menschliches Handeln unterliegt nicht nur Naturgesetzen, sondern auch Gesetzen, die menschlich verursacht sind. Sie schaffen in der Gesellschaft somit soziale Tatsachen und sind daher wie die Naturgesetze meßbar. Nicht meßbar ist lediglich alles, was nicht in die bejahenden positiven Beziehungen der Menschen eingeht z. B. die destruktiven oder irrationalen Verhaltensweisen. Als Negatives können sie lediglich in der Abweichung vom Normalen festgestellt werden.

Tönnies vertritt somit einen sozialpsychologischen Voluntarismus, den zwei anderen Denkern aus dem nordfriesischen Raum mit ihm teilen: Friedrich Paulsen und Julius Bahnsen. Es gibt ein Wille, in dem Denken und ein Denken, in dem Wille enthalten ist. Das mit dem Willen verbundene Denken gibt die Anstöße zur Vergesellschaftung der Menschen bis hin zur Staatsgründung. Es entspringt inneren und nicht äußeren, womöglich gar durch einen Gott gesteuerten Ursachen. Tönnies wollte in der gleichen Art, wie durch die Entwicklung der Technologien die Beherrschung der Natur möglich wird, eine "Kunstlehre" sozialen Verhaltens entwickeln, die durch den menschlichen Intellekt zu erreichen ist, sofern dieser in den Dienst menschlichen Selbsterhaltungs- und Geschlechtstrieb gestellt wird.

Wie Tönnies die zwei unterschiedlichen Zustände von Gemeinschaft und Gesellschaft unterscheidet, entsprechen ihnen zwei unterschiedliche Willensformen: "Wesenwille" und "Kürwille". Während der Wesenswille keine Handlungsspielräume zuläßt, ist zwar das Wollen beim Kürwillen auch nicht frei, weil er an Naturgesetzlichkeiten und Spielregeln gebunden ist. Er kann aber immerhin sein Zwecke selbst bestimmen und die zur Verfügung stehenden Mittel danach aussuchen, welche am besten und am ehesten zum Ziel führen. Auch hat der die Freiheit, sich für etwas oder dagegen zu entscheiden.

Tönnies war Positivist, d. h. er läßt nur das gelten, was der wissenschaftlichen Überprüfung standhält. Der Positivismus verzichtet überhaupt darauf, Welträtsel lösen zu wollen. Auf politischem Gebiet besteht Tönnies wissenschaftliches Ethos des Denkens und Forschens im Erkennen und Verstehen dessen, was ist - und was werden soll. Erkenntnis fragt nicht danach, was für einen Nutzen sie hat oder welchen Schaden sie anrichtet. Tönnies kritischer und konstruktiver Rationalismus wendet sich daher sowohl gegen eine verengte empirischen Denkweise wie auch gegen eine idealistische Lebensphilosophie irrationalistischer Richtung. Entgegen beiden Richtungen versucht Tönnies seine wissenschaftliche Soziologie zu begründen.

Der Hobbsche Terminus "Krieg aller gegen alle" mit dem Kontrast Naturzustand versus Staatsgründung kann für Tönnies nichts anderes heißen, daß er nicht nur im vorstaatlichen Zustand sondern auch innerhalb des geordneten bürgerlichen Zustands gedacht werden muß. In der Wissenschaft vom sozialen Leben muß also konsequenterweise die Feindseligkeit mitberücksichtigt werden. Aufgabe des Staats, überhaupt aller Institutionen ist es, die in ihnen lebenden Menschen zu zwingen, sich gegenseitiger Gewalt zu enthalten. Das wissenschaftlich Problem besteht nun darin, wie das Verhältnis menschlicher Natur und der Notwendigkeit menschlichen Zusammenlebens zueinander bestimmt werden kann.

Tönnies hat wahrscheinlich auch entscheidend durch seine in der "Philosophischen Terminologie" entwickelten Zeichentheorie, die 1896 als Preisschrift in der englischen Philosophiezeitschrift "Mind" veröffentlicht wurde, den neopositivistisch geprägten Wiener Kreis, insbesondere Carnap und Neurath beeinflußt.

HANS-JÜRGEN HANSEN

Zuletzt geändert am 03.06.2002


Nach oben
Zurück