Adorno über Max Weber

(Negative Dialektik, S. 163-168)

Folgende Bemerkungen zu einem Text von Theodor W. Adorno über Max Weber befassen sich mit dem immer in ganz bestimmten Konstellation erscheinenden Einzelnen. Das Denken kapituliert vor dem Unauflöslichen leicht, bereitet für das Subjekt ein Tabu, das sich auf wissenschaftlicher oder irrationalistischer Ebene bescheiden soll. Weil das Denken nicht an das rühren soll, was ihm nicht gleicht, bezieht sich der zweite Abschnitt auf Geschichte, bzw. auf das Wissenschaftskonzept Max Webers.

Adorno kritisiert ein bestimmtes Denken, das zwar ein gängiges Erkenntnisideal ist, das aber dennoch, Respekt bekundend, vor diesem die Waffen streckt. Das Denken möchte es zwar einverleiben, ist aber gleichzeitig abgeneigt gegen das nicht Einzuverleibende, das doch gerade der Erkenntnis bedarf.

Die vor der Einzelheit resignierende Theorie arbeitet dem Bestehenden, gemeint ist das derzeitige Gesellschafts- und Wissenschaftssystem, in die Hände. Dieses System verschafft der Einzelheit Nimbus und Autorität geistiger Undurchdringlichkeit. Wenn auch das Einzelne (Existierende) mit seinem Oberbegriff (Existenz) nicht zusammenfällt, so ist es doch interpretierbar. Es ist kein dahingestellt Letztes, an dem Erkenntnis sich die Stirn einstieße.

Ein Einzelding nicht schlechthin für sich da, sondern ist mit Anderem verbunden. Dieses Mehr ist immanent am Einzelnen. Das Innere des Gegenstandes erweist sich zugleich als sein Auswendiges. Seine Verschlossenheit erweist sich als Schein, als Reflex eines identifizierenden, fixierenden Verfahrens, das nicht zum Wesen, zum Allgemeinen führt. Dieses kristalliert sich erst heraus, wenn das Einzelne mit dem Anderen in Kommunikation tritt. Das Allgemeine haust im Zentrum der individuellen Sache. Das Allgemeine, das Wesen erscheint nicht erst, wenn ein Individuelles mit einem Anderen verglichen wird. Denn absolute Individualität ist Produkt des Abstraktionsprozesses, der ja um der Allgemeinheit willen ausgelöst wurde. Das Individuelle ist da. Es läßt sich nicht aus dem Denken ableiten. Es ist nicht im Allgemeinen zu finden. Der Kern des Individuellen ist dagegen vergleichbar mit individuierten, allen Schemata absagenden Kunstwerken. Wenn wir diese allerdings analysieren, werden wir selbst im Extrem ihrer Individuation Momente des Allgemeinen wiederfinden. Dort überlebt das einigende Moment dadurch, daß nicht stufenweise vom Begriff zum allgemeinen Oberbegriff übergegangen wird, sondern in dem diese Momente in Konstellation zueinander treten. Ein gutes Beispiel dafür ist das Verhalten der Sprache. Die auftretende, darstellende Sprache ist kein bloßes Namenssystem für Erkenntnisfunktionen. Sie definiert nicht ihre Begriffe.

Ihre Objektivität erhalten Begriffe durch das Verhältnis, in das sie diese zentriert um eine Sache setzt. Dadurch kann das Gemeinte des Begriffs ganz ausgedrückt werden. Allein in der Konstellation wird das Mehr erkennbar, was der Begriff im Innern weggeschnitten hat.

Indem Begriffe sich um die zu erkennende Sache sammeln, erreichen sie potentiell deren Inneres. Es wird nun möglich, denkend das Innere zu erkennen. Die Sache selbst ist ihr Zusammenhang, nicht ihre pure Selbstheit. Es bedurfte bei Hegel der Sprache nicht, weil bei ihm alles Geist sein sollte, auch das Sprachlose oder nicht klar Erkennbare (Opake). Der Geist stellt bei Hegel den Zusammenhang dar. Diese Formulierung ist zwar nicht zu retten, wohl aber ist die Sache in keinem vorgedachten Zusammenhang als Auflösliches, als Nichtidentisches zu betrachten, von sich aus seine Verschlossenheit überwinden kann. Erst durch Sprache löst sich der Begriff aus seiner Selbstheit. Das Nichtidentische gelangt zu sich erst in seiner Entäußerung, nicht in seiner Verhärtung.

Um sich ins Innere zu versenken, bedarf es des Äußeren. Die immanente Allgemeinheit des Einzelnen ist aber abgelagerte (sedimentierte) Geschichte. Der Konstellation gewahr werden, in der eine Sache steht, heißt das als Gewordenes in sich Tragende zu entziffern. Das Zusammenspiel von draußen und drinnen ist historisch bedingt. Allein Wissen vermag im Gegenstand seine Geschichte zu entbinden. Erkenntnis ist der Prozeß, in der der Gegenstand in seiner jeweiligen Konstellation aufgespeichert wird. Die Konstellation, die als theoretischer Gedanke den Begriff umkreist, kann mit einer Nummernkombination bei Kassenschränken verglichen werden. Nur so kann der Begriff aufgeschlossen werden. Ein Einzelschlüssel oder eine Einzelnummer ist dafür ein unzureichendes Mittel.

Am Beispiel Max Webers zeigt sich, daß dieser Tatbestand weniger aus der Philosophie als aus bedeutenden wissenschaftlichen Untersuchungen zu entnehmen ist. Die "Idealtypen" verstand Max Weber als Hilfsmittel, sich dem Gegenstand zu nähern. Das entsprach durchaus dem Sinn subjektivistischer Erkenntnistheorie. Dem Nominalismus verpflichtet, lassen sich aber die Arbeiten Max Webers weit mehr vom Objekt leiten als nach seinem eigenen Methodenverständnis wohl zu erwarten wäre.

Die Erforschung eines sozialen Gegenstandes wird falsch, wenn diese auf einen Bereich begrenzt wird, die den Gegenstand überhaupt begründen. Es wird ignoriert, daß auch der Gegenstandsbereich noch von der Totalität des Gesamten abhängt. Ohne den übergeordneten Begriff werden jene Abhängigkeiten von der Gesellschaft verhüllt. Der einzelne Gegenstand ist als Begriff adäquat nicht einzubringen. Tröstlich für unsere heutige Erkenntnis ist aber trotzdem, daß einzig durch das Einzelne die Totalität wieder hindurchscheint und damit möglich gemacht wird, daß sich Begriffe in der jeweils bestimmten Art der Erkenntnis wandeln.

Weber wurde sich in der Abhandlung über die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus der Schwierigkeit der Definition historischer Begriffe bewußt wie vor ihm nur Philosophen. Er kam zu der Folgerung, daß soziologische Begriffe aus ihren einzelnen, der geschichtlichen Wirklichkeit zu entnehmenden Bestandteilen, allmählich komponiert werden müßten. Die endgültige begriffliche Erfassung kann nicht am Anfang, sondern erst am Schluß der Untersuchung stehen. (Prot. Eth., S. 39, Winckelmann-Ausgabe)

Als auffindbares Objekt, das der geschichtlichen Erklärung dienen soll, kann es nur ein "historisches Individuum" sein, d. h. ein Komplex von Zusammenhängen in der geschichtlichen Wirklichkeit, die unter dem Gesichtspunkt ihrer Kulturbedeutung begrifflich zu einem Ganzen zusammengeschlossen werden müssen.

Ein historischer Begriff kann nicht, da er sich inhaltlich auf eine in ihrer individuellen Eigenart bedeutungsvolle Erscheinung bezieht, nicht aus einem allgemeinen Gattungsbegriff abgeleitet, abgegrenzt werden. (Prot. Eth., weiter oben, ebd.)

Wenn am Schluß der Untersuchung die endgültige Erfassung steht, dann ist allerdings die Frage, ob es am Schluß überhaupt der Definitionen bedarf, oder ab das formelle definitorische Ergebnis das zu sein vermag, was auch hinter Webers erkenntnistheoretischer Absicht stehen mag. Adorno gesteht jedoch zu, sowenig Definitionen das Ein und Alles der Erkenntnis ist, sowenig sind diese zu verbannen. Denken, das nicht der Definition mächtig wäre, das nicht für Augenblicke vermöchte, der Sache durch sprachliche Prägnanz gerecht zu werden, wäre ebenso steril wie eines, das sich an Verbaldefinitionen sättigt.

Webers Komposition hat freilich bloß eine subjektive Seite im Auge, nur das Verfahren der Erkenntnis. Adorno gebraucht wieder ein Beispiel aus der Kunst und zwar welche Rolle die Komposition in der Musik spielt. Subjektiv hervorgebracht ist die Komposition dem Künstler gelungen, denn in ihm ist die subjektive Produktion untergebracht. Den Zusammenhang jedoch, den das Werk stiften soll, der geistige Gehalt, wird erst lesbar als Zeichen der Objektivität. Somit schlägt in der Konstellation, im Zusammenhang, den die Komposition stiftet, das subjektiv Gedachte und Zusammengebrachte vermöge der Sprache (Noten)/Übermittlung in Objektivität um.

Webers Verfahren, das doch sehr dem traditionellen Wissenschaftsideal und seiner Theorie verpflichtet ist, enträt glücklicherweise keineswegs diesem Moment, es ist bei ihm nur nicht das Thema. Auch muß das, was unter dem "Geist" des Kapitalismus zu verstehen ist, nicht der einzige mögliche Gesichtspunkt sein, unter denen historische Erscheinungen, wie der Kapitalismus, analysiert werden können. Bei der Feststellung des Objektes, dessen Analyse und historische Feststellung, kann es sich nicht um eine begriffliche Definition, sondern nur um eine provisorische Veranschaulichung dessen handeln, was mit dem "Geist" des Kapitalismus gemeint ist. (Prot. Eth., S. 39/40)

Wenn auch Webers reifstes Werk, "Wirtschaft und Gesellschaft", zuweilen dem Anschein nach, an einem der Jurisprudenz entlehnten Überschuß leidet, so sind diese doch mehr als solche. Sie stellen Versuche dar, durch die Versammlung von Begriffen einen gesuchten zentralen Begriff auszudrücken, worauf er geht. Ähnlich wie bei Karl Marx, hebt Max Weber im Begriff Kapitalismus von so isolierten und subjektiven Kategorien wie Erwerbstrieb oder Gewinnstreben ab. Auch bringt er Beispiele, was das Wesen, das zur Entstehung des Kapitalismus führte, nicht ist. Denn gewisse Erscheinungsformen hat es zu allen Zeiten und in allen Ländern schon immer gegeben.

Dann definiert Max Weber aber doch, was seiner Ansicht nach das Wesen des Kapitalismus ausmacht: Zusammen mit einer bestimmten, vom Sparzwang beherrschten Geisteshaltung, die der Protestantischen Ethik entliehen ist, müsse das Gewinnstreben im Kapitalismus am Rentabilitätsprinzip, an den Marktchancen orientiert sein. Es müsse sich der kalkulierenden Kapitalrechnung bedienen. Haushalt und Betrieb müßten getrennt sein. Die Organisationsform sei die freie Arbeit. Vor allem aber bedürfe es eines rationalen Rechtssystems, das diese Wirtschaftsform absichere und alle Schritte berechenbar mache. Ob dieser Katalog vollständig ist, scheint fraglich. Abgesehen des durch den Äquivalententausch hindurch sich reproduzierenden Klassenverhältnisses, ist es die Frage, ob Webers Methode dem Wesen des Kapitalismus gerecht wird. Gerade die zunehmende Integrationstendenz des kapitalistischen Systems, dessen Momente sich zu einem stets vollständigeren Funktionszusammenhang verschlingen, macht die Frage nach der Ursache dieser Konstellation immer schwieriger.

Nicht erst Erkenntniskritik, sondern der reale Gang der Geschichte nötigt zum Aufsuchen von Konstellationen. Webers Denken würde sich als Drittes gegenüber Positivismus und Idealismus bewähren, wenn der ihm gerne gemachte Vorwurf, eine Systematik entwickelt zu haben, die frei von den Konstellationen der Geschichte wäre, als haltlos erweisen würde. Weiter bleibt nach Habermas (Log. d. Soz. Wiss., S. 316) aber die Frage, ob Webers Idealtypen sich nicht übereinstimmend mit seiner geheimen, nach außen hin nicht sichtbaren Geschichtsphilosophie gebildet und angeordnet haben, aus deren Blickwinkel er die gesamtgesellschaftliche Entwicklung interpretiert.

Wir kommen am Schluß zur Frage nach den Grenzen der Erkenntnis, wie es möglich ist, das Absolute zu erfahren, zu erkennen. Stoßen wir damit nicht auf die Grenze der Metaphysik überhaupt? Was ist der Ausweg? Welche Möglichkeit gibt es denn noch? Wir können z. B. die Geschichte als eine reale geschichtliche Konstellation betrachten, aus dem wir ein Begriffssystem entwickeln oder ableiten, nach denen wir (als Vorteil oder Nachteil) unsere künftige Handlungen setzen und so im Gefolge feststellen, ob diese sich an der Wirklichkeit bewähren oder nicht.

HANS-JÜRGEN HANSEN

Seminararbeit zum Hauptseminar "Adorno, Negative Dialektik" bei Martin Suhr im Sommersemester 1981.


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