(I.)
Jürgen Habermas Werk, "Faktizität und Geltung", ist rechtstheoretischer Natur. Die "Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats", wie der Untertitel lautet, soll seine 1981 veröffentlichte "Theorie des kommunikativen Handelns" um die rechtspolitische Dimension ergänzen. Obwohl ihm zweifelsfrei ein nachmetaphysisches Gesellschaftsmodell vorschwebt, ist die Kommunikationstheorie sowenig wie die Rechtstheorie für ihn kein Leitbild gesellschaftlichen Handelns. Zu oft sind großartige Theorieentwürfe und Ideologien in der Vergangenheit gescheitert oder überzeugten infolge der größeren Widerstände in der Praxis nicht. Habermas' Sympathie ist dennoch bei denen, die zugunsten humanerer Lebensformen vom kapitalistischen System wegkommen wollen. Er möchte an der Vernunft, der Rationalität also, festhalten, der den Umgang der Menschen untereinander erleichtern soll. Die herrschende instrumentelle Rationalität jedoch, die Systemrationalität des kapitalistischen Systems also, kritisiert er, da diese sich bedenklich in alle Poren der rationalen Lebensweltstrukturen einsaugt und deren eigensinnige Rationalität gefährdet.
Habermas' Diskurstheorie will also keine Metatheorie oder Anleitung zur Veränderung der Gesellschaft sein. Zwar läßt sich eine vernünftige Lebenspraxis leicht nachweisen, sie kann aber mit rationalen Mitteln nicht von vornherein hergestellt werden. Gerade an dieser Tatsache scheiterten ja alle sozialistischen Umgestaltungsversuche. Der "Staatssozialismus" brach weltweit hauptsächlich deswegen zusammen, weil "das sozialistische Projekt mit dem Entwurf und der gewaltsamen Durchsetzung einer konkreten Lebensform verwechselt" wurde. Dennoch ist der "Sozialismus" an sich etwas Vernünftiges, sofern er als "Inbegriff notwendiger Bedingungen für emanzipierte Lebensformen" steht, über die sich die Beteiligten selbst jedoch erst verständigen müssen. Auch im "Projekt Sozialismus" muß als normativer Kern "die demokratische Selbstorganisation einer Rechtsgemeinschaft" enthalten sein. (S. 12)
Nach Ende des "Weltbürgerkrieges" und dem Zusammenbruch der sozialistischen Länder im Osten konnte das "obsiegende westliche liberale Demokratiesystem" seinen Triumph jedoch nicht recht auskosten. Den Erben des "moralischpraktischen Selbstverständnisses der Moderne" gelingt es immer weniger, den Kapitalismus sozialstaatlich oder ökologisch zu zähmen oder ihn angesichts der "Furcht einflößenden Dimensionen der Weltgesellschaft" weiter auszufalten. Die rechtsstaatlichen und demokratischen westlichen Gesellschaften setzen daher auf den "systemischen Eigensinn einer über Märkte gesteuerten Ökonomie" und hüten sich vor einer "Überdehnung des Machtmediums staatlicher Bürokratien". Orientierungslos geworden verlieren sie immer mehr an Selbstbewußtsein durch folgende weltweite Entwicklungen: Ökologisch begrenzter ökonomischer Wachstum, zunehmende Disparität der Lebensverhältnisse zwischen der nördlichen und südlichen Erdhälfte, historisch beispiellose Umstellung staatssozialistischer Gesellschaften auf die Mechanismen ausdifferenzierter Wirtschaftssysteme, Migrationsströme aus den verelendeten Regionen des Südens und jetzt des Ostens, Risiken und Existenz neuer ethnischer, nationaler und religiöser Kriege und die nach wie vor bestehende atomare Erpressung. (S. 12 f.)
Ein wachsender Rechtspopulismus in Europa und Amerika läßt die Institutionen der etablierten Demokratien nicht unangefochten. Sie ahnen bereits, daß ein Rechtsstaat ohne radikale Demokratie nicht zu haben ist und daß er immer mehr auf eine regenerationsbedürftige gesellschaftliche Solidarität angewiesen ist. Als gefährdete Ressource ist sie in den rechtlichen Strukturen der Lebenswelt aufbewahrt. Die privaten Rechtssubjekte werden unmöglich gleiche subjektive Freiheiten genießen können, wenn sie sich nicht in gemeinsamer Ausübung ihrer politischen Autonomie über ihre berechtigten Interessen und Maßstäbe klarwerden und sich darauf einigen, daß "Gleiches gleich und Ungleiches ungleich" behandelt werden muß. (S. 13)
(II.)
Die Grundaussagen der "Theorie des kommunikativen Handelns" lassen sich hier nur kurz wiedergeben. Habermas stützt sich unter anderem auf Karl Marx, Max Weber, Emilie Durkheim, Herbert Mead, Alfred Schütz, Talcon Parsons, Georges Lukács, Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, die ihm entscheidende Bausteine für seine Theorie lieferte. Er arbeitet dabei zwei unterschiedliche Theoriestränge heraus, die Systemtheorie und die Handlungstheorie, die er, das ist das Neue, miteinander kombiniert. Da ist zum einen die im wesentlichen durch instrumentelles Handeln geprägte "Systemebene" die sich in der Moderne von der in der Handlungstheorie beschriebenen "Lebenswelt" entkoppelt hat. Diese ist wiederum unterteilt in die über Geld gesteuerte Tauschwirtschaft und den über Macht gesteuerten administrativen Verwaltungsstaat. Besonders wirksam ist dieser Handlungstyp in der Ökonomie, die Karl Marx bei der Formulierung der Werttheorie ja auch vor Augen hatte. Sie bleibt deswegen für die Akteure undurchschaubar, weil der Austausch der materiellen Produktion und Reproduktion praktisch hinter ihrem Rücken mit Hilfe des Geldes vorgenommen wird. Die in Wertäquivalenten verflüssigte abstrakte Arbeit ist daher Gradmesser aller gesellschaftlichen Tätigkeit.
Die verselbständigten Systembereiche "Wirtschaft" und "Staat" gehörten ursprünglich der Lebenswelt an, die sich im Übergang von der Tradition zur Moderne ausdifferenzierte. Zur Lebenswelt zählen im wesentlichen ein privater Bereich mit Einzelpersonen oder Familien und ein öffentlicher Bereich in dem die Privatsubjekte untereinander verkehren. Sowohl der private Bereich als auch die Öffentlichkeit sind auf die normale Umgangssprache angewiesen und werden durch kommunikatives Handeln zusammengehalten. Die Lebenswelt, die alle nichtmateriellen Lebenszusammenhänge wie kulturelle Überlieferung, soziale Integration durch Normen und Werte sowie Entwicklung des Persönlichkeitssystems enthält, ist sehr wichtig für die Erziehung und Sozialisation der nachwachsenden Generationen und kann über einen durch den Markt vermittelten Geldtauschhandel oder über administrative oder wirtschaftliche Macht nicht gewährleistet werden. Die dadurch entstehenden Krisen in den materiellen Bereichen Wirtschaft und Staat lassen sich nur auf Kosten einer "Pathologisierung" der Lebenswelt auffangen.
Auch wenn Einzelnen oder Gruppen in der heutigen Gesellschaft kein Traditionsgehalt mehr gegenübersteht, wenn die Lebenswelt in ihren strukturellen Komponenten Kultur, Gesellschaft und Person so zerstört sind, daß kulturelles Wissen nicht mehr erneuert, kollektive Solidaritäten nicht mehr hergestellt und personaler Identitäten nicht mehr ausgebildet werden, dann ist die symbolische Reproduktion innerhalb der Lebenswelt nachhaltig gestört. Den entsprechenden Krisen sind Sinnverluste, Anomien und Psychopathologien zuzuordnen.
Mit Lebenswelt benennt Habermas das, was bei uns im normalen Alltag anhand tradierter Normen und Werte, gemeinsamer Sprache und kultureller Überlieferungen geschieht. In dieser normalen Alltagswelt verhalten sich die Menschen schon immer vernünftig durch eingespielte Konventionen. Das ist den meisten nicht bewußt, da diese Verständigung quasi hinterm Rücken der Kommunikationsteilnehmern stattfindet. Probleme entstehen erst, wenn darüber nachgedacht wird, was im normalen Alltag eigentlich geschieht. Die Lebenswelt ist das merkwürdige Ding, das vor unseren Augen zerfällt und entschwindet, sobald Teile daraus uns theoretisch bewußt gemacht oder hinterfragt werden. Der Gewißheitscharakter geht verloren.
Die Entwicklung neuer oder alternativer Lebensstile müssen nicht unbedingt altgewohnte Lebensformen zerstören, sondern es können sich differenziertere und rationalere herausbilden. Sie werden aber nicht dadurch geschaffen, "daß man über sie redet und redet", sie müssen vielmehr in eine Alltagspraxis durchgesetzt werden. Die Schwierigkeit besteht darin, daß jedem veränderten und bewußt akzeptierten Element einer neugestalteten Lebenswelt eine Vielzahl von Elementen gegenüberstehen, die nicht an die Oberfläche gelangen und damit auch nicht thematisiert werden können. Wir haben uns an sie so gewöhnt und sie sind so tief in die Lebensgeschichte eingegraben, daß diese selbst radikalste Alternativen oder Utopien nicht ins Bewußtsein rücken können. Alternative Lebensformen unterscheiden sich dennoch deutlich von den traditionellen, weil in ihnen ein erweiterter Horizont thematisiert wird.
Wenn es stimmt, daß die Lebenswelt uns so sehr unproblematisch ist, daß aus freien Stücken und nach Belieben nicht davon irgendwelche Teile bewußt gemacht werden können, bleiben uns weiterhin große Teile der Natur, überhaupt des menschlichen Lebens in seinen festgefügten Lebensweltstrukturen verborgen und sind allen wissenschaftlichen Erklärungsversuchen unzugänglich. Die Identitätsbildung innerhalb der Moderne ist uns daher nur noch in reflexiver Gestalt und als kontinuierlicher Lernprozeß denkbar.
(III.)
Das Recht behält nun in dieser Konstellation zwischen den Lebensweltkomponenten der Gesellschaft und den neuartigen Funktionssystemen der geldgesteuerten Ökonomie oder der machtgesteuerten Verwaltung eine Scharnierfunktion. (S. 77) Im "Handlungssystem" der Lebenswelt erfüllt das Recht die Funktion der sozialen Integration, wobei die beiden anderen Lebensweltkomponenten Kultur und Persönlichkeitssystem gleichursprünglich an der Produktion von Rechtshandlungen beteiligt sind. Trägt Recht in den Systembereichen Wirtschaft und Staat zur legitimen Ordnung höherer Stufe bei, bleibt diese über die Umgangssprache dennoch an die Lebenswelt rückgekoppelt, weil sie in ihr begründet ist und somit an das konstituierende Wissens- und Sprachsystem des Alltags anschließt. Zur Wahrnehmung und Artikulation gesamtgesellschaftlicher Relevanzen und Maßstäbe steht die Umgangssprache zur Verfügung, die ohnehin immer beansprucht wird sowohl in der Peripherie der politischen Öffentlichkeit als auch oberhalb im Parlament bei der Behandlung gesamtgesellschaftlicher Probleme.
Habermas versteht unter Recht die in demokratischen Verfahren zustandekommenden Rechtsnormen. Es ist ein modernes gesatztes Recht, "das mit dem Anspruch auf systematische Begründung sowie verbindliche Interpretation und Durchsetzung auftritt". (S. 106) Der Mechanismus für die Erzeugung legitimen Rechts ist das Demokratieprinzip. Es kann nur als Kern eines Systems von Rechten in Erscheinung treten. Das System enthält die Rechte, die die Bürger einander zuerkennen müssen, wenn sie ihr Zusammenleben legitim mit Mitteln des positiven Rechts regeln wollen. (S. 155) "Positives Recht" bezeichnet dabei jene Rechtsform, die soziale Verhaltenserwartungen stabilisiert. Habermas möchte, daß "legitime Regelungen" von Handlungsnormen mit Hilfe seines Diskursprinzips überprüft werden können.
Mit Rechtsnormen werden Aktoren zur Wahrnehmung subjektiver Freiheiten berechtigt. Rechtsregeln ermöglichen dabei die Interaktionen zwischen sprach und handlungsfähigen Subjekten innerhalb einer konkreten Gesellschaft. Die hierfür geltenden Rechtsnormen gehen auf die Beschlüsse eines historischen Gesetzgebers zurück. Sie beziehen sich auf ein geographisch abgegrenztes Rechtsgebiet und auf ein abgrenzbares Kollektiv von Rechtsgenossen. Ein freier Rechtsweg muß ebenso garantiert sein wie ein damit verbundener Rechtsschutz, um Rechtsansprüche der in ihren Rechten beeinträchtigten Personen geltend machen zu können. Aber die, die dem Recht unterstehen, müssen auch an der Entstehung des Rechts beteiligt werden. Sie müssen sich in der Idee der Selbstgesetzgebung zugleich als Autoren und Adressaten des Rechts und von Rechten verstehen. (S. 160)
Die Richter des Bundesverfassungsgerichts könnten zwar stellvertretend die Hüter einer in den Routinen des parlamentarischen Geschäfts stillgestellten und erstarrten Selbstbestimmungspraxis sein und die Selbstbestimmungsrechte des Volkes wahrnehmen. Als Statthalter positiver Freiheiten, falls die Staatsbürger als Träger diese selbst nicht ausüben wollen, würde das Verfassungsgericht genau in jene paternalistische Rolle zurückfallen, die nach prozeduralistischem Verfassungsverständnis ja eigentlich bekämpft werden müßte. (S. 337 f.)
Nach liberaler Lesart soll der demokratische Prozeß den Staat im Interesse der Gesellschaft programmieren, wobei der Staat als Apparat der öffentlichen Verwaltung tätig werden und die Gesellschaft als System des marktwirtschaftlich strukturierten Verkehrs der Privatleute und ihrer gesellschaftlichen Arbeit wirken soll. Dabei bündelt Politik (im Sinne der politischen Willensbildung der Bürger) die gesellschaftlichen Privatinteressen gegenüber einem Staatsapparat, der auf die administrative Verwendung politischer Macht für kollektive Ziele spezialisiert ist und mit ihrer Hilfe durchsetzt. (S. 326)
Nach republikanischer Auffassung wird Politik dagegen als konstitutiver Vergesellschaftungsprozeß begriffen, der einen sittlichen Lebenszusammenhangs reflektiert. Zur hierarchischen Regelungsinstanz staatlicher Hoheitsgewalt und der dezentralisierten Regelungsinstanz des Marktes, tritt daher als weiterer Integrationsfaktor die Solidarität oder die Gemeinwohlorientierung hinzu. Die auf Verständigung und Konsens angelegte politische Willensbildung erhält, da für die Praxis staatsbürgerlicher Selbstbestimmung eine autonome zivilgesellschaftliche Basis vorausgesetzt wird, ein noch stärkeres Gewicht. Sie bewahrt davor, daß die politische Kommunikation nicht vom Staatsapparat aufgesogen oder an die Struktur des Marktes assimiliert wird. Die politische Öffentlichkeit und der zivilgesellschaftliche Unterbau sollen der Verständigungspraxis der Staatsbürger die Integrationskraft und die Autonomie sichern helfen. (S. 327)
Eine Selbstbestimmungspraxis gemeinwohlorientierter Staatsbürger, die sich als "freie und gleiche Angehörige einer kooperierenden und sich selbst verwaltenden Solidargemeinschaft verstehen" (S. 326), kann die Kraft demokratischer Willensbildung aber nicht "vorgängig aus der Konvergenz eingelebter sittlicher Überzeugungen" beziehen. Die legitimierende Kraft gewinnt die Diskurstheorie erst aus Kommunikationsvoraussetzungen und Verfahren, in denen im Prozeß der Beratung die besseren Argumente zum Zuge kommen. (S. 339) Die ethischpolitische Selbstverständigung verträgt sich nur schlecht mit der Funktion des Gesetzgebungsprozesses, in der zwar auch kollektive Zielsetzungen mit eingehen, aber die Struktur der Gesetze doch eher durch die Frage bestimmt wird, nach welchen Normen die Bürger ihr Zusammenleben regeln wollen.
So können sich Angehörige von Nationen, Bewohner von Regionen, Mitglieder von Kommunen darauf verständigen, wie sie ihre Traditionen fortsetzen, wie sie untereinander miteinander umgehen, wie sie Minoritäten oder Randgruppen behandeln wollen. Wie und nach welcher Art sie ihr Leben gestalten möchten, mag zwar ein wichtiger Bestandteil ihrer Politik sein, muß aber im gleichmäßigen Interesse aller geregelten "Materien" untergeordnet werden. Der Gesichtspunkt der Gerechtigkeit sollte die primäre Normsetzung sein und am Prinzip dessen bemessen werden, was für alle und nicht nur für ein bestimmtes Kollektiv gut ist. (S. 343 f.)
Habermas setzt deswegen auf eine "deliberative Politik" d. h. auf ein Verfahren, das im Kern auf überlegte Entscheidungen im demokratischen Prozeß beruht. Seine Diskurstheorie nimmt sowohl liberale als auch republikanische Elemente auf. Das demokratische Verfahren mit seiner ideale Prozedur für Beratung und Beschlußfassung stellt den "internen Zusammenhang zwischen pragmatischen Überlegungen, Kompromissen, Selbstverständigungs- und Gerechtigkeitsdiskursen her und begründet die Vermutung, daß unter den Bedingungen eines problembezogenen Informationszuflusses und sachgerechter Informationsverarbeitung vernünftige bzw. faire Ergebnisse erzielt werden" können. (S. 359 f.)
(IV.)
Der Wohlfahrtsstaat mit seinen sozialen Sicherungen wurde ja ursprünglich auf die Initiativen sozialdemokratischer Parteien eingeführt. Sozialstaatliche Gerechtigkeitsvorstellungen überlagerten zunächst das liberale Rechtsmodell, verdrängten es und lösten es schließlich ab. Durch die Sozialstaatsklausel wurde dieses Prinzip sogar im Grundgesetz fest verankert. Nun entwickelt ein solcher Wohlfahrtsstaat aber starke Mechanismen sozialer Kontrolle, d. h. die Menschen werden durch die administrative Verteilung wohlfahrtsstaatlicher Leistungen zur "Normalisierung" ihres Lebens angehalten. Was Norm ist, bestimmt jetzt der Staat, nicht Angehörige der gemeinsam geteilten Lebenswelt. Das Leben der Leistungsempfänger des Wohlfahrtstaates wird bürokratischen Regulierungen unterworfen und die in ihnen geprägten Kategorien widersprechen den ethischen Grundlagen jener, die ihr "eigenes Leben" leben möchten. Es zeigt sich, daß ein erfolgreich durchgesetzter Sozialstaat, der mit anwachsender staatlicher Bürokratie die Rechte seiner Klienten erheblich einzuschränken versucht, unempfindlich wird gegenüber individueller Selbstbestimmung. (S. 470)
Das Prinzip der rechtlichen Gleichheit sollte sich ja an der Kompetenz messen, wie sich die Rechtssubjekte im Rahmen der Gesetze nach eigenen Präferenzen frei entscheiden können. Faktisch entstehen jedoch Ungleichheiten, da von denselben Rechten unterschiedlicher Gebrauch gemacht wird. Nicht rechtlich gleichbehandelte Personen oder Gruppen werden diskriminiert und ihre Chancen zur Nutzung gleichverteilter subjektiver Handlungsfreiheiten de fakto beeinträchtigt. (S. 500 f.) Die sozialstaatliche Regelung wächst zum Dilemma aus, wenn die erreichte faktische Gleichheit von Lebenslagen oder bestimmter Machtpositionen gleichzeitig die sicherungsbedürftigen Spielräume für die privatautonome Lebensgestaltung empfindlich einschränkt, so z. B. wenn sich familienrechtliche Regelungen sich an "normalvorbildliche Sozialisationsmuster" orientieren. (S. 501 f.) Auch die Gewerkschaften bekommen dies empfindlich zu spüren, wenn über Tarifverträge zwar vorteilhafte Arbeitszeitregelungen vereinbart, auf der anderen Seite aber durch die Arbeitszeitdisziplin die Autonomie der arbeitenden Privatrechtssubjekte einschränkt werden. (S. 497 f.) Der Ausgleich von Situationsnachteilen ist also mit Bevormundungen verbunden. Die beabsichtigte Autorisierung zum Gebrauch der Freiheit verkehrt sich in eine "betreute" Existenz.
Das sozialstaatlich materialisierte Recht verbürgt Freiheit und Freiheitsentzug gleichzeitig. (S. 502) Trotz dieser Ambivalenz ist Habermas der Meinung, daß das Sozialstaatsprojekt auf einer höheren Ebene fortgesetzt und durch sozialen und ökologischen "Umbau" sowohl das kapitalistische Wirtschaftssystem gebändigt und gegen zuviel Einsatz administrativer Macht immunisiert werden muß. (S. 494) Den unerwarteten Folgen sozialstaatlicher Vorsorge kann durch eine Staatsbürgerqualifikation begegnet werden, innerhalb derer sich Leistungsrechte auf einen Bürgerstatus gründen lassen, die gleichzeitig private und öffentliche Autonomie gewährleisten. (S. 472) Der Maßstab für Autonomie fördernde soziale Regelungen muß so gezogen werden, daß Privatleute in ihrer Rolle als Staatsbürger für die Wahrnehmung ihrer Autonomie hinreichend qualifiziert werden können. (S. 503)
Zur Vermeidung des sozialstaatlichen Paternalismus bietet sich die privatrechtliche Einklagbarkeit subjektiver Rechte an. Das materialisierte Recht stellt jedoch wegen seinen komplexen Bezugnahmen auf sozialtypische Lagen hohe Kompetenzanforderungen an die Konfliktparteien. Rechte werden nur in dem Maße sozial wirksam, wie die Betroffenen hinreichend informiert und fähig sind, den durch Justizgrundrechte verbürgten Rechtsschutz zu nutzen. Das hängt wiederum von allgemeiner und formaler Schulbildung, von sozialer Herkunft und anderen Variablen wie Geschlecht, Alter, Prozeßerfahrung usw. ab. Die Zugangsbarrieren bei der Inanspruchnahme des materialisierten Rechts sind auch deswegen hoch, weil vom Laien verlangt wird seine Alltagsprobleme wie in der Arbeit, in Freizeit, Konsum, Wohnung, Krankheit usw. in spezielle, von Erfahrungskontexten der Lebenswelt abstrahierende Rechtskonstruktionen zu zerlegen. Eine kompensatorische Rechtsschutzpolitik muß daher die Rechtskenntnisse, die Wahrnehmungs- und Artikulationsfähigkeiten, die Konfliktbereitschaften und die Durchsetzungsfähigkeiten der schutzbedürftigen Klienten stärken. (S. 494 f.)
Eine Gegenmacht sozialer Interessen kann über Rechtsschutzversicherung, Prozeßkostenübernahme usw. hinaus durch Formen kollektiver Rechtsdurchsetzung gefördert werden. Dafür sind Verbands- oder Gemeinschaftsklagen sowie Einrichtungen von Ombudsleuten, Schiedsstellen usw. gut geeignet. Überforderte Klienten lassen sich umso weniger entmächtigen, wenn kollektiver Rechtsschutz durch kompetente Stellvertretung nicht nur den Einzelnen entlastet, sondern ihn auch an der organisierten Wahrnehmung, Artikulation und Durchsetzung eigener Interessen beteiligt. Wenn die sozialstaatliche Entmündigung nicht weiter voranschreiten soll, muß der betroffene Bürger den organisierten Rechtsschutzes als politischen Prozeß erfahren und selbst an der Artikulation gesellschaftlicher Interessen und am Aufbau der Gegenmacht mitwirken. (S. 495)
(V.)
Habermas' Sorge gilt der Verselbständigung sozialer Macht gegenüber demokratischer Prozesse. Er setzt den Begriff der "kommunikativen Macht" daher dagegen, der allerdings nur innerhalb des parlamentarischen Komplexes wirksam werden kann. (S. 415) Er begreift die politische Öffentlichkeit als eine Kommunikationsstruktur, die über ihre zivilrechtliche Basis hinaus in der Lebenswelt verwurzelt ist. Wie diese muß die Öffentlichkeit in einem über kommunikatives Handeln erzeugten sozialen Raum reproduziert werden. (436) Der öffentliche Raum konstituiert sich sprachlich (S. 437), die Träger der politischen Öffentlichkeit sind Staatsbürger und Gesellschaftsbürger in Personalunion. (S. 442) Der Kern der "Zivilgesellschaft" dagegen besteht aus freiwilligen nichtstaatlichen und nichtökonomischen Zusammenschlüssen sowie Assoziationen. Die Zivilgesellschaft kann nicht mit "bürgerlicher Gesellschaft" gleichgesetzt werden, die privatrechtlich gesteuerte Ökonomie ist ebenfalls nicht gemeint. (S. 443) Wie die Öffentlichkeit als nichtinstitutionalisierte politische Bewegungs- und Ausdrucksform, besitzt die Zivilgesellschaft allerdings auch nur wenig Handlungsspielraum.
Die "radikaldemokratische Praxis" einer "vitalen Bürgergesellschaft" sollte sich aber selbst begrenzen, denn sonst entstehen populistische Bewegungen, die blind die "verhärteten Traditionsbestände einer von kapitalistischer Modernisierung gefährdeten Lebenswelt" verteidigen". Ihre Formen der Mobilisierung mögen zwar modern sein, in ihren Zielsetzungen sind sie jedoch zutiefst antidemokratisch. Zudem können bürgerbewegte Akteure in der liberalen Öffentlichkeit nur publizistisch-politischen Einfluß, nicht aber politische Macht gewinnen. Damit ihre Ziele in kommunikative Macht münden und somit in legitime Rechtsetzung eingehen, müssen diese erst "die Filter der institutionalisierten Verfahren demokratischer Meinungs- und Willensbildung" durchlaufen. (S. 449)
Die demokratischen Bewegungen der Zivilgesellschaft sollten nicht der Illusion einer "sich im ganzen selbst organisierenden Gesellschaft" verfallen. Die Zivilgesellschaft kann nur sich selbst unmittelbar transformieren, mittelbar kann sie aber nur durch die kommunikative Macht auf die Selbsttransformation des rechtsstaatlich verfaßten politischen Systems einwirken. (S. 450) Jedenfalls können die zivilgesellschaftlichen Akteure in Krisensituationen eine überraschend aktive und folgenreiche Rolle übernehmen und sie erhalten in den "kritischen Augenblicken der beschleunigten Geschichte" die Chance, die konventionell eingespielten Kommunikationskreisläufe der Öffentlichkeit umzustülpen und damit verändernd zum "Problemlösungsmodus des ganzen Systems" beizutragen. (S. 460)
Die zivilgesellschaftliche Peripherie besitzt gegenüber den Zentren der Politik "den Vorzug größerer Sensibilität für die Wahrnehmung und Identifizierung neuer Problemlagen", weil die Kommunikationsstrukturen der Öffentlichkeit mehr mit den privaten Lebensbereichen verknüpft sind. Kaum eines der brennenden Themen der letzten Zeit wie z. B. Gentechnologie, Gewässerverschmutzung, Verelendung der Dritten Welt, Asylanten usw., wurden von "Exponenten des Staatsapparates" zuerst aufgebracht. Immer haben Betroffene, bestenfalls "selbsternannte Anwälte" sie lanciert. Über die kontroverse Behandlung in den Medien erreichten sie das "große Publikum". Manchmal aber müssen spektakuläre Aktionen und Massenproteste erfolgen, damit ihre Anliegen in die Programme der "Altparteien" und in richterliche Grundsatzurteile eingehen und so zumindest formell in Kernbereiche des politischen Systems vordringen zu können. (S. 460 f.)
Erst unter den Bedingungen der rationalisierten Lebenswelt und der ausgebildeten liberalen Öffentlichkeit mit starkem zivilgesellschaftlichen Fundament und gestärkter "Autorität des stellungnehmenden Publikums im Zuge eskalierender öffentlicher Kontroversen", lassen sich in den Fällen krisenabhängiger Mobilisierung die "Zusammenballung populistisch verführbarer, indoktrinierter Massen" verhindern. In liberalen Öffentlichkeiten haben "die subinstitutionellen Bewegungspolitiken, die die konventionellen Bahnen der Interessenpolitik verlassen, um dem rechtsstaatlich regulierten Machtkreislauf des politischen Systems gleichsam den Rücken zu stärken, eine andere Stoßrichtung als in formierten Öffentlichkeiten, die lediglich als Foren plebizitärer Legitimationen dienen." (S. 462)
Bürgerproteste sind ein letztes Mittel, um oppositionellen Argumenten stärkeres Gehör und publizistisch-politischen Einfluß zu verschaffen. Die mit ihnen verbundene Akte bürgerlichen Ungehorsams und gewaltfreie symbolische Regelverletzungen wenden sich "als Ausdruck des Protestes gegen bindende Entscheidungen, die nach Auffassung der Akteure trotz ihres legalen Zustandekommens im Lichte geltender Verfassungsgrundsätze illegitim sind". Sie richten sich an Amtsinhaber und Mandatsträger, die formell abgeschlossenen politischen Beratungen wieder aufzunehmen, um in Abwägung der fortdauernden öffentlichen Kritik ihre Beschlüsse gegebenenfalls zu revidieren. Sie appellieren "an den Gerechtigkeitssinn der Mehrheit der Gesellschaft", an das kritische Urteil eines Staatsbürgerpublikums, das mit ungewöhnlichen Mitteln mobilisiert werden soll. Das politische System mit seiner rechtsstaatlichen Verfassung darf sich nicht von der Zivilgesellschaft losmachen und sich gegenüber der Peripherie verselbständigen. (S. 462 f.)
Politische Macht ist die einzige autorisierende Kraft, die legitimes Recht schafft und Institutionen begründet. Sie tritt am reinsten auf, wenn Revolutionäre die Macht auf der Straße ergreifen, wenn eine zum passiven Widerstand entschlossene Bevölkerung "fremden Panzern mit bloßen Händen" entgegentritt und wenn überzeugte Minderheiten durch "zivilem Ungehorsam" die Legitimität bestehender Gesetze bestreiten. (S. 184 f.) Die seltenen Augenblicke der "Revolutionen" unterbrechen den normalen Gang eines bürokratisch verselbständigten politischen Betriebs. Wenn Geschichte in den "Momenten einer verfassungspolitischen Erregung heißläuft", tritt "das Volk" aus der Normalität seiner staatsbürgerlichen Privatheit heraus, eignet sich die ihm bürokratisch entfremdete Politik an und verschafft vorübergehend zukunftsweisenden Innovationen eine unvorhergesehene Legitimationsbasis. Der in langen Latenzzeiten schlummernde Volkswille gerät durch den vitalistischen Gedanken der demokratischen Selbstbestimmung in den Gegensatz zur institutionalisierten Gesetzgebung gewählter Repräsentanten. (S. 337)
Öffentliche Meinungsbildung, institutionalisierte Wahlentscheidungen und legislative Beschlüsse sollen gewährleisten, daß sich publizistisch erzeugter Einfluß und kommunikativ erzeugte Macht über die Gesetzgebung in administrativ verwendbare Macht umformt. Die Grenze zwischen "Staat" und "Gesellschaft" wird bei der "Zivilgesellschaft" zwar respektiert, aber sie selbst unterscheidet sich als soziale Grundlage autonomer Öffentlichkeiten vom ökonomischen Handlungssystem ebenso wie von der öffentlichen Administration. Das normative Gewicht, aus denen moderne Gesellschaften ihren Integrations- und Steuerungsbedarf befriedigen, verschiebt sich aus demokratischen Gründen weg von den Ressourcen "Geld" und "Macht" hin zur sozialintegrativen Kraft der "Solidarität". Diese sollen sich in weit ausgefächerte autonome Öffentlichkeiten und rechtsstaatlich institutionalisierter Verfahren der demokratischen Meinungs- und Willensbildung entfalten und sich rechtlich gegenüber den beiden anderen Mechanismen behaupten. (S. 362 f.)
Die Integration von Menschen in einer hochkomplexen Gesellschaft kann nicht paternalistisch, also an der kommunikativen Macht des Staatsbürgerpublikums vorbei abgewickelt werden. Die institutionalisierte Meinungs- und Willensbildung ist auf informelle Zufuhren der Öffentlichkeit, der Assoziationen und der Privatsphäre angewiesen. (S. 427) Über die Organisationsform freiwilliger Assoziationen lassen sich spontane herrschaftsfreie Beziehungen nichtkontraktualistischer Art denken. Eine über Assoziationen integrierte, horizontal vernetzte Gesellschaft entspräche der Utopie der anarchistischen Gesellschaft. Habermas befürchtet jedoch, daß diese allein am Steuerungs- und Ordnungsbedarf moderner Gesellschaften scheitern kann, begrüßt jedoch ihren kritischen Stoß "gegen die Systemblindheit einer normativen Demokratietheorie, die sich über die bürokratische Enteignung der Basis hinwegtäuscht" und gegen "die fetischisierende Verfremdung einer Systemtheorie" richtet, die "Möglichkeit einer fokusbildenden Kommunikation der Gesellschaft über sich als ganze bereits analytisch ausschließt." (S. 620)
Ein gegen den Staatsapparat gewendetes Politikverständnis der Demokratie ist gleichbedeutend mit der politischen Selbstorganisation der Gesellschaft im Ganzen. (S. 360) Habermas' Diskursethik stellt den politischen Meinungs- und Willensbildungsprozeß in den Mittelpunkt und stimmt insofern mit dem Republikanismus überein, der auf institutionalisierte Prinzipien und Verfahren als anspruchsvolle Kommunikationsformen des Rechtsstaats (S. 361) mehr Wert legt als auf eine kollektiv handlungsfähige Bürgerschaft. Habermas will eine dezentrierte Gesellschaft, in der die Volkssouveränität prozeduralisiert und das politische System an die peripheren Netzwerke der politischen Öffentlichkeit zurückgebunden ist.
(VI.)
Nach Habermas hat sich der Status und die Rechtsstellung der Immigranten, Fremden, heimatlosen Ausländer und Staatenlosen in der Bundesrepublik, wie in anderen westlichen Rechtsstaaten auch, an die der eigenen Staatsbürger angeglichen. Da das Grundgesetz im wesentlich durch die Idee der Menschenrechte bestimmt ist, sind im Grunde alle Einwohner der Bundesrepublik durch die Verfassung geschützt. Die Ausländer genießen gleiche Pflichten, Leistungen und Rechtsschutz wie die Inländer auch. Hinsichtlich des wirtschaftlichen Status besteht, von Ausnahmen abgesehen, Gleichbehandlung. Eine große Anzahl der Gesetze ist neutral in Bezug auf die Staatsangehörigkeit. Der Staat bildet eine konkrete Rechtsgemeinschaft, die ihren Staatsangehörigen spezielle Verpflichtungen auferlegt. Es sind ja auch weniger die politischen Asylsuchenden als Wirtschaftsimmigranten, die die Mitglieder der europäischen Staatengemeinschaft vor Begründungsprobleme stellen. (S. 653 f.)
In der Frage der aktiven Staatsbürgerschaft hat sich nach der liberalen Naturrechtstradition ein individualistisch-instrumentalistisches Verständnis herauskristallisiert. Die rechtliche Stellung der Staatsangehörigkeit wird nach dem Muster einer Organisationsmitgliedschaft begründet. D. h. die dem Staat äußerlich bleibenden Individuen leisten bestimmte Beiträge, etwa mit Wahlstimmen oder Steuerzahlungen, um Organisationsleistungen im Austausch dafür zu erhalten. Die Staatsbürger unterscheiden sich nur unwesentlich von Privatleuten, welche ihre vorpolitischen Interessen dem Staatsapparat gegenüber zur Geltung bringen.
Liberale Argumente zur Abwehr von Ausländerfeindlichkeit heben oft nutzenorientierende Gesichtspunkte der Einwanderungspolitik hervor. So kann den Fremden zwar der Zuzug gestattet werden, sofern die Bilanz staatlicher Leistungen und Ansprüche nicht weiter negativ ausfällt. Leistungsschwache und hilfsbedürftige Asylsuchende sollten dem Staat aber nicht auf der Tasche liegen. Fortgeschrittenere Liberale räumen durchaus Verpflichtungen gegenüber den "Anderen" ein. Diese dürfen aber nicht aus der Zugehörigkeit zu einer konkreten Gemeinschaft resultieren. Deshalb müssen nationale Regierungen dafür sorgen, daß die positiven Staatsbürgerpflichten auch gegenüber den Nichtangehörigen, das schließt die Asylsuchenden ein, erfüllt werden. Immigranten sollen ein freies und menschenwürdiges Dasein finden und nicht nur politisches Asyl im Gastgeberland erhalten können. (S. 656 f.)
Dem liberalen Politikbegriff mit staatlich garantierten Rechten privater Bürger auf Leben, Freiheit und Eigentum steht eine republikanische Tradition mit der Selbstbestimmungspraxis gemeinwohlorientierter Staatsbürger gegenüber, die sich als freie und gleiche Angehörige einer kooperierenden und sich selbst verwaltenden Gemeinschaft verstehen. (S. 325 f.) Hier hat sich ein kommunitaristisch-ethisches Verständnis der Staatsbürgerschaft herauskristallisiert. Die Bürger sind in diesem politischen Gemeinwesen wie Teile zum Ganzen integriert und in der sich ihre persönliche und soziale Identität im Horizont gemeinsamer Überlieferungen und anerkannter politischer Institutionen ausbildet. (S. 640) Die Staatsbürgerschaft wird daher nicht rechtlich, sondern ethisch in Bezug auf eine konkrete sittlich integrierte Gemeinschaft verstanden. (S. 341) Vereint suchen die Bürger in der politischen Öffentlichkeit nach dem jeweils Besten für das Kollektiv. (S. 339) Das jedoch verträgt sich schlecht mit den Bedingungen eines kulturellen und gesellschaftlichen Pluralismus moderner Gesellschaften. (S. 340)
Die Identität politischer Gemeinwesen sie verdankt sich Rechtsprinzipien, die mehr in einer bestimmten politischen Kultur, weniger in besonderen ethnisch-kulturellen Lebensformen verankert sind. Immigranten müssen sich lediglich auf die politische Kultur ihrer neuen Heimat einlassen, ohne daß sie ihre eigene kulturelle Lebensform aufzugeben brauchten. Die demokratische bestimmte Staatsbürgerschaft ist nicht in der nationalen Identität eines Volkes verwurzelt. Vielmehr bedarf es, unangesehen der Vielfalt verschiedener kultureller Lebensformen, der Sozialisation aller Staatsbürger innerhalb der gemeinsamen politischen Kultur. (S. 643) Das demokratische Recht auf Selbstbestimmung schließt das Recht auf Bewahrung eigener politischer Kulturen, aber kein Selbstbehauptungsrecht privilegierter kultureller Lebensformen ein. Die unterschiedlichen kulturellen Lebensformen können im Rahmen der Verfassung des demokratischen Rechtsstaates gleichberechtigt nebeneinander koexistieren. Die geforderte "politische Akkulturation" umfaßt also nicht das Ganze ihrer Sozialisation. Importierte Lebensformen können sogar eine Bereicherung darstellen und neue Perspektiven vermitteln, aus denen eine gemeinsame politische Verfassung interpretiert werden kann. (S. 659 f.)
Der Europäische Binnenmarkt löste eine größere horizontale Mobilität aus und vervielfachten die Kontakte zwischen Angehörigen verschiedener Nationalitäten. Die Immigranten aus Osteuropa und den Armutsregionen der Dritten Welt steigern die multikulturelle Vielfalt der Gesellschaft. Die dadurch hervorgerufenen sozialen Spannungen und Probleme können, produktiv verarbeitet, auch politisch mobilisierend wirken und sozialen Bewegungen wie beispielsweise in der Friedens-, Ökologie- oder Frauenbewegung neue Impulse geben. Da der Zuzugs von Immigranten nur noch europäisch zu koordinieren und zu lösen sind (S. 650), sollten europäischen Staaten eine liberale Immigrationspolitik zulassen und sich nicht in der "Wagenburg des Wohlstandschauvinismus" gegen den Andrang Immigrationswilliger und Asylsuchender verschanzen. (S. 659)
Aus dem normativen Gehalt der von nationaler Identität weitgehend entkoppelter Staatsbürgerschaft sind Gesichtspunkte für restriktive oder hinhaltende Asyl- oder Einbürgerungspolitiken nicht zu gewinnen. In einem künftigen europäischen Bundesstaat sollten ein und dieselben Rechtsprinzipien aus den Perspektiven verschiedener nationaler Überlieferungen, verschiedener nationaler Geschichten in Perspektive zu anderen so interpretiert und relativiert werden, daß diese sich in eine übernational geteilte westeuropäische Verfassungskultur einbringen könnten. (S. 643) Im besonderen politischen Gemeinwesen sind Bürger erst dann in der Lage mit universalistischer Kompetenz handeln, wenn sich in ihr allgemeine universalistische Verfassungsgrundsätze durchgesetzt haben. Eine demokratische, sich partikularistisch nicht abschließende Staatsbürgerschaft würde im übrigen den Weg für einen Weltbürgerstatus bereiten, der in den weltweiten politischen Kommunikationen bereits reale Gestalt angenommen hat. Wenn Staatsbürgerschaft und Weltbürgerschaft auch noch weit entfernt sind, der weltbürgerliche Zustand ist nichts Phantastisches mehr, er zeichnet sich aber in Umrissen bereits ab. (S. 659 f.)
(VII.)
Um ein Fazit zu ziehen: Jürgen Habermas gilt als einer der bedeutendsten und scharfsinnigsten Theoretiker deutscher Sprache. Er entwickelte nicht nur ein gewaltiges Theoriegebäude, sondern er hob in der Öffentlichkeit auch regelmäßig seine Stimme zu wichtigen politischen Fragen oder Ereignissen. Auch im theoretischen Gesamtwerk scheinen ernstzunehmende und wissenschaftlich gut begründete Argumente für eine gerechtere und bessere Welt durch. Wenn er auch Freifahrtscheine für politisches Handeln nicht vergibt, so beleuchtet er doch überzeugend die Verkehrtheit gesellschaftlicher Zusammenhänge und politischer Fehlentwicklungen. Wenn Habermas nicht deutlicher wird, mag das daran liegen, daß auch er argumentlogischen Zirkelschlüssen nicht entkommen kann. Sonst müßte er ja bereits mühsam begründete Standpunkte preisgeben. Dennoch gibt es bei ihm etwas Hinausschießendes, ja fast anarchistische Elemente. Er möchte der Spontaneität als einen bedeutsamen Faktor im zwischenmenschlichen Zusammenleben, zum Recht verhelfen. Damit scheint, vielleicht gewollt oder ungewollt, doch ein gewisser Messianismus für eine bessere Gesellschaftsutopie durch, die Habermas negativ als Kritik und positiv als Hoffnung formuliert.
Die Idee des Ganzen jedoch, des alles Zusammenhaltenden, die ganzheitliche Sicht, in der wir Lebende uns als Einzelne oder Teile des Ganzen betrachten können, diese Perspektive ist wohl nur unter großem Aufwand in die Theorie des kommunikativen Handelns zu integrieren. Deshalb erscheint die Habermas'sche Gesellschaftstheorie im ersten Moment (auch wegen des unerhört schwierigen Zugangs) eher dürftig, dann wiederum stark, wenn Habermas die vorgenannten überschießende Momente zu rechtfertigen sucht. Utopische Entwürfe als Leitbild gegenwärtigen Handelns müssen sich, wenn diese sich nicht kontraproduktiv auswirken und der Menschheit nicht neue Leiden hinzufügen sollen, auch infrage stellen lassen. Utopien sollten ebenso wie fehlgeschlagene Gesellschaftspraxen geregelten und überprüfbaren Diskursen unterzogen werden.
Habermas hatte einmal die "starke Behauptung" aufgestellt, daß die Idee der Vernunft in der Reproduktionsform der "sprechenden Tiergattung" eingebaut ist. (Vorstudien und Ergänzungen, 105) Sofern er daran noch festhält, liegt diese Feststellung sogar unterhalb jener Idealisierung, wonach die Vernunft sprachlicher Kommunikation an bestimmte historische und damit gesellschaftliche Formen gebunden ist. Dann würde aber auch die von Habermas verbrämte Metaphysik oder bestimmte ideologieverdächtige Anthropologien wieder ihre Auferstehung feiern. Wenn der durch Sprache vermittelte Verständigungsprozeß aber geschichtlich hergestellt wird, dann muß den geschichtlich Handelnden aber auch die Möglichkeit zu Utopien eingeräumt werden, d. h. religiöse oder sonstige metaphysische Beweggründe können weiterhin ihr alltägliches Handeln beeinflussen wie überhaupt gilt, daß Handlungen ohne eine Vorstellung vom Ziel nicht vorgenommen werden können.
Aber schon Menschen der Vorgeschichte verfügten von Natur aus über eine Sprache, mit der sie sich untereinander verständigen werden konnten. Das hob sie aus dem allgemeinen Tierreich heraus. Die Sprache war die Gabe und das Mittel der Koordination, um die Natur überlisten und so ihr Überleben sichern zu können. Da die Menschen aber die Naturvorgänge nicht durchschauten, schrieben sie diese nicht sich selbst, sondern mythischen oder göttlichen Mächten zu. Die unterschiedlichen Arten des Umgangs mit der Natur und die jeweils unterschiedliche Verständigungspraxis der Menschen untereinander, schlugen sich in unterschiedliche Traditionen und Lebenswelten nieder. Erst als universale Prinzipien sich in den unterschiedlich entwickelten Gesellschaften überwiegten, bildetete sich etwas Gemeinsames heraus, nämlich die von der Aufklärung beeinflußte und von rationalen Elementen geleitete (Welt)Geschichte.
Vergessen wird oft, daß die Rationalität gerade in ihren alltäglichen Handlungen auf einer irrationalen, mythischen Grundlage beruht. Die Habermas'sche Aussage, daß Menschen innerhalb ihrer Verständigungspraxis immer schon vernünftig handeln, ist zwar richtig, dennoch folgt sie Prämissen, die irrationaler bzw. metaphysischer Natur sind. Wenn also menschliches Handeln in der Gesellschaft nicht beliebig, also in die Barbarei versinken soll, benötigen die handelnden Subjekte ein Leitbilder, die natürlich möglichst "vernünftig" sein sollten. Wir brauchen also eine allen Menschen gerechte Utopie, die dem von Habermas angesprochenen Gerechtigkeitsdiskurs auch standhalten kann.
Daß uns eine solche Utopie nicht einfach "zufällt", dürfte klar sein. Die Initiierung und Einrichtung einer vernünftigen Verständigungspraxis in dem Sinne, daß möglichst viele Menschen einer vom Gerechtigkeitsideal bestimmten Utopie überzeugt sind, dafür muß geworben und gekämpft werden, sie fällt uns nicht in den Schoß. Daß Irrtümer und Ungereimtheiten mitlaufen, ist klar. Leider zeigt es sich erst im Nachherein, ob sich etwas als falsch herausstellt hat. Und auch das Falsche kann geleugnet oder nicht bewiesen werden, solange es Menschen gibt, die sich gegen arational gegen Vernünftiges und rational Nachvollziehbares entscheiden. Die Vernunft ist im Menschen nicht angelegt, sie kann nur erworben und historisch tradiert werden. Irrationalität ist nie völlig auszuschließen, dafür sind wir zu sehr Teil der Natur. Habermas ist immerhin darin zuzustimmen, daß innerhalb traditioneller Lebenszusammenhängen und auch nur dort, eine partielle Vernunft enthalten ist.
In seinen politischen Aussagen ist Habermas, entgegen den Ansprüchen seiner Diskursethik, ebenfalls ab und zu inkonsequent. Dazu gehören die nicht gerade pazifistischen Äußerungen, die er anläßlich des zweiten Golfkrieges Anfang 1991 gemacht hatte. Im Zusammenbruch des Sozialismus in der DDR und anderswo sah er zwar seine auch vorher schon kritische Einschätzung zum "real existierenden Sozialismus" bestätigt. Dem Auflösungsprozeß in Ostdeutschland konnte er jedoch nichts anderes als Entsetzen über den neuen "DM-Nationalismus" ausdrücken und hilflos am westlichen "republikanischen Verfassungspatriotismus" festhalten. Auch glaubte er im "Bürgeraufbruch" und am "runden Tisch" einen "revolutionären" historischen Moment einer mündigen Zivilgesellschaft zu erkennen, eine Illusion, wie sie sich angesichts des administrativen und ökonomischen Plattmachens an sich gesunder Strukturen der ehemaligen DDR herausstellte.
Golfkrieg und DDR-Umbruch mögen Habermas vielleicht demoralisiert und zu unüberlegten Äußerungen verleitet haben. In den jüngsten Stellungnahmen zum Immigranten- und Asylantenproblem in der Wochenzeitung "Die Zeit" und in seiner "Diskurstheorie des Rechts" war jedoch sein an ihm so geschätzter alter Anspruch und kritischer Biß wieder da. Dennoch bleibt etwas Unbefriedigendes, weil Habermas sich sichtlich scheut, weitergehende Konsequenzen zu ziehen, die sich aus der Entwicklung des westlichen kapitalistischen Systems ergeben haben. Es ist die Frage, ob seine rechtstheoretischen Prämissen in unserer heutigen marktwirtschaftlich verfaßten Wirtschaftsordnung und abgeschotteter staatlicher Administration überhaupt greifen und ob seine Hoffnung auf die regenerierbare vitale Lebenswelt nicht vielleicht illusionär ist, da diese in Agonie verfallend von den Systemimperativen des Marktes und der Staatsbürokratie aufgesogen bzw. kolonisiert werden.
Schließlich ist kritisch zu fragen, warum der republikanische Verfassungspatriotismus etwas anderes sein sollte als der Republikanismus eines Schönhubers. Wenn nicht in pure Ideologie abzugleiten, muß er Begriff umfassend erklärt werden können. Es darf innerhalb einer unkritischen publizistischen Öffentlichkeit nicht alles mögliche darunter verstanden werden. So kursiert z. B. auch der Begriff "Zivilgesellschaft" als undefiniertes Modewort in bestimmten Gruppierungen wie z. B. in der Partei der "Grünen". Es wird als leeres Schlagwort gerne für jene Verhandlungs- und Gestaltungsspielräume reklamiert, die Herrschenden nicht mehr abgekämpft zu werden brauchen. Zur Ehre Habermas' sei jedoch gesagt, daß er auf eine exakte Klärung des Wortes "Zivilgesellschaft" Wert legte und den Begriff in jene Arena der Öffentlichkeit zurückverweist, in der Autonomie und Selbstbestimmung noch fruchtbar und wirksam ist.
Jürgen Habermas: "Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats", Ffm 1992 (Suhrkamp).
HANS-JÜRGEN HANSEN - Geschrieben September 1993, durchgesehen und korrigiert 28. 10. 2024.