Regionalismus und Weltgesellschaft


Zurück
Zur Startseite

WestküsteNet

Die Seiten von der Nordseeküste


Einleitung

Wenn Sozialwissenschaftler heute die Region entdecken, mit allem was dazugehört, so entspricht diese Tatsache dem allgemeinen Trend gesellschaftlicher Differenzierung. Sofern in solchen Untersuchungen der Blick für das Allgemeine, für das Zusammenhängende nicht verlorengeht, ist dagegen nichts einzuwenden und sogar zu begrüßen. Ich persönlich frage mich, welche Chance ein "Regionalismus" oder eine "Regionale Bewegung" in einer "Weltgesellschaft" eigentlich haben könnte. Ich gehe dabei von den zwei unterschiedlichen und gegenläufigen modernistischen Entwicklungsrichtungen der "Integration" und "Differenzierung" aus.

Mit Integration und Differenzierung läßt sich umfassend und gut die Verlaufsstruktur der Weltgesellschaft wiedergeben. Durch wirtschaftlichen, industriellen und technischen Fortschritt wurden in diesem Prozeß weltweite Modernisierungsprozesse ausgelöst, die selbst abgelegene und unberührte traditionellen Gesellschaften voll in ihren Bann zogen. Den Prozessen der "Integration" und "Differenzierung" liegen gleichermaßen die Einheit und die Vielfalt der Welt zugrunde. Was jedoch an Einheit und Vielfalt gewonnen wird, geht andererseits mit kultureller Verarmung oder gänzlichem Verschwinden traditioneller Lebensweisen einher, auch wenn die alten Lebensformen uns als rückständig oder gar repressiv erscheinen mochten.

Wie können die alten Traditionen und oft unersetzbare Kulturformen angesichts der weltweiten universalen und vereinheitlichenden Modernisierungsprozesse hinübergerettet werden in unsere als "postmoderne" sich bezeichnende Gesellschaft? Postmoderne Gesellschaft deshalb, weil ihrem Selbstverständnis entsprechend in ihr - im Gegensatz zum Modell der modernistischen und einheitlichen Weltgesellschaftskultur - ein kulturpluralistisches Weltbild vorgesehen ist. Unter ihr hätten die Menschen in moralischer und ästhetischer Hinsicht eher eine Chance, jene Kreativität und Expressivität zu erwerben, die sie im Einklang mit der Natur bräuchten, um ihre Lebensbedingungen in einer menschlicheren und friedlicheren Umwelt selbst zu erzeugen und zu gestalten. Zwar mutet sich dieses Bild der postmodernen Gesellschaft als utopisch an, aber es könnte nicht gezeichnet werden, wenn nicht bereits einige Momente davon in der heutigen Welt vorfindbar wären oder schon realisiert sind.

Das Problem des "Regionalismus" innerhalb der "Weltgesellschaft" läßt sich, wie Esterbauer aufzeigt, auf zwei Ebenen darstellen: "Die Begriffe des 'Regionalismus' und sinngemäß der 'Region' beziehen sich auf räumliche Teileinheiten einer Gesamteinheit, innerstaatlich als Untergliederung eines Staates und international als engerer Zusammenschluß einiger, in einem engeren Näheverhältnis zueinander stehender, Mitgliedsstaaten der universellen Staatengemeinschaft als Gesamtsystem. Der Regionalismus bildet so innerstaatlich einen Gegenpol zum Zentralstaat und zum Zentralismus und international zur Weltgemeinschaft und zu einer universellen Einheit, aber ebenso zum nationalistischen Staat, der seine Souveränität auch nach außen absolut versteht und keine Zuständigkeiten an internationale Gemeinschaften abtreten möchte. Der Regionalismus erhebt aber seinerseits keinen Absolutheitsanspruch gegenüber den Nationalstaaten und der Weltgemeinschaft, sondern versteht sich nur als Ergänzung zur Wahrnehmung differenzierter Gemeinsamkeiten und spezifischer Interessen." [ 1 ]

Der Begriff des "Regionalismus", der in dieser Arbeit verwendet wird, bezieht sich allerdings nicht auf den des "Internationalen Regionalismus", der jeweils Gegenstand der Untersuchungen von Joseph S. Nye [ 2 ]
und Winfried Lang [ 3 ] ist. Es wird hingegen versucht, einerseits die Bedingungen für die Unterentwicklung peripherer Regionen, hier Nordfriesland, herauszufinden und andererseits zu fragen, was unter den Begriffen "Regionalbewußtsein", speziell "Friesische Identität" oder "Regionalbewegungen" verstanden wird und in welche globalen Zusammenhänge diese Begriffe gestellt werden können. Es soll geklärt werden, warum die Region oder die Provinz in das Blickfeld der Sozialwissenschaftler geraten ist. Zum anderen sollen die Entwicklungsperspektiven für Regionalbewegungen herausgestellt und welche Bedeutung die traditionellen Elemente in ihnen haben. Und schließlich, welche Rolle wird eine Region wie Nordfriesland und mit ihr die nordfriesische Minderheitssprache in einer am Weltmarkt und in der Weltgesellschaft vollintegrierten Bundesrepublik Deutschland überhaupt einnehmen können?

Regionale Bewegungen, die sich aufs gemeinsame kulturelle Erbe, auf gleiche politische Ideale und auf parallele wirtschaftlich-soziale Interessen berufen möchten, dürfen nicht zu sehr unter dem Aspekt der Erlangung oder Bevorzugung Sonderrechte gesehen werden. Vielmehr sind die Aspekte der Wahrnehmung regionaler Interessen und Demokratieerfordernisse mit dem Ziel der Selbst- und Mitbestimmung und der Gleichstellung der Regionen in den Vordergrund zu rücken. Zu häufig wird etwas als "lokales" oder "regionales" Interesse ausgegeben, was in Wirklichkeit doch nur dem Gesamtinteresse des Zentrums dient. [ 4 ]

Die friesische Sprache hätte in naher Zukunft insofern Chancen, wenn ihre Sprecher nicht versuchten, ihre Sprache nach außen hin abzuschließen, oder akzeptierten, daß diese sich ständig verändert und auch anderweitige Einflüsse in sich aufnimmt. Zur positiven Entwicklung des Friesischen wären die bewußte Einstellung und die allgemeine Akzeptanz unbedingt wichtig und notwendig. Es wäre verheerend, wenn die eigenen Sprechern ihre friesische Muttersprache ebenso abgewerteten wie die in Nordfriesland gebräuchliche niederdeutsche Mundart, die als Sprache des gemeinen Volks lange Zeit als diskriminierend empfunden und daher ihren Kindern nicht mehr weitergegeben wurde. Diese Einstellung scheint sich aber inzwischen wieder zu ändern. "Dialekt ist in", lautet heute ein gängiges, viel verbreitetes Schlagwort.

Friesisch hat sich in Nordfriesland bis heute als eigenständige Minderheitensprache halten können. Gerade weil sie in einigen Orten noch zur Selbstverständlichkeit des Alltags gehört, sollte sie auch im größeren Rahmen politisch geschützt und gefördert werden. Zwar müßten die Anstöße und Impulse aus der Region selbst kommen, aber durch eine stärkere Problematisierung gegenüber einer überregionalen Öffentlichkeit könnte ein größeres Interesse an friesischer Sprache und Kultur geweckt werden. Zur Belebung bedarf es notwendigerweise über das Lokale hinausreichenden größeren geistigen Umfeldes. Allerdings wäre es erforderlich, daß die friesische Kultur, unter kritischer Aneignung ihrer traditionellen Elemente, in die gegenwärtigen modernen differenzierten Lebensformen integriert würde. Wiederbelebte Elemente sollten dabei zur Bereicherung der friesischen Sprach- und Kulturgemeinschaft in Nordfriesland beitragen.

Viele der hier angesprochenen, insbesondere die Region Nordfriesland betreffenden Probleme und Details, bedürften notwendig einer ausführlicheren Behandlung und einer breiteren empirischen Untermauerung. Dies ließ aber der räumliche und zeitliche Rahmen der Arbeit nicht zu. Daher wurde nur die Grund- und Klarlegung des Regionalismusproblems angestrebt, um die mögliche Bedeutung für die nordfriesische Region herauszustellen. Klärungsbedürftig wäre weiter die problematische Frage, wie der Regionalismus gegenüber der alles übergreifende Weltgesellschaft einzuordnen ist und welche weltweite Bedeutung Regionen in ihr haben könnten. Es wäre illusionär zu glauben, daß eine so kleine Region wie Nordfriesland in irgendeiner Weise eine größere Rolle innerhalb der Weltgesellschaft spielen könnte. Es mögen aber im historischen Rückblick durchaus wichtige Impulse von ihr ausgegangen sein. Nordfrieslands vielgerühmte Freiheits- und Rechtstradition beeinflußte möglicherweise auch die damalige Verfassung der USA. Ihr Zustandekommen ist aber nicht allein das Verdienst friesischer Auswanderer gewesen. Der dem friesischen Deichrecht entlehnte Subsidaritätsgedanke erlangte ebenfalls eine gewisse Bedeutung und ist heute besonders in der katholischen Soziallehre verankert.

Der Regionalismus und darauf aufbauende Regionalbewegungen könnten in einer wie immer auch aussehenden Weltgesellschaft möglicherweise größeres Gewicht erlangen, wenn die Nationalstaaten ihre Souveränität in stärkerem Maße nach oben (oder unten) abgeben würden. Regionen erführen als politische Einheit dann eine Renaissance, wenn Nationen jene klassischen Aufgaben nicht mehr wahrnähmen, die für ein friedliches Zusammenleben der Menschen untereinander notwendig wären, oder wenn Nationalstaaten einfach dadurch überflüssig werden, weil wirtschaftliche Akteure seit langem an Nationalgrenzen keinen Halt mehr machten und die innerstaatlichen rechtlichen Rahmenbedingungen den internationalen Gepflogenheiten anpaßten.

Es ist kein Zufall, daß ich im folgenden systemtheoretische Begriffe verwende. Obwohl dieser Wissenschaftstradition nicht verpflichtet, scheint mir die Systemtheorie angemessener und besser geeignet zu sein, die gesellschaftliche Wirklichkeit, zumindest in ihrem Systemcharakter zu erkennen. Zumal wiederum menschliche Akteure versuchen, die Wirklichkeit in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht nach Systemgesichtspunkten auszurichten und umzugestalten. Speziell der theoretische Ansatz von Jürgen Habermas, der die Systemtheorie mit dem Lebensweltkonzept koppelt und in Beziehung setzt, scheint besser regionale Phänomene der Lebenswelt und weltgesellschaftliche Systemgesichtspunkte zu verknüpfen und gleichzeitig auch die Mängel der Systemtheorie aufzuzeigen.

In dieser Arbeit versuche ich als erstes, den Ursachen und Anfängen der Modernisierung der Gesellschaft und ihres sozialen Wandels auf die Spur zu kommen. Dazu werden zunächst die Grundlagen traditioneller Gesellschaften und die aus ihr differenzierte moderne Gesellschaftsentwicklung beschrieben. Den gegenläufigen Prozessen der Integration und Differenzierung werden getrennte Abschnitte gewidmet. Der Abschnitt "Integration und Weltgesellschaft" wird unterteilt in wirtschaftliche und politische Integration. Der Abschnitt "Differenzierung und Regionalismus" ist in fünf Teile gegliedert: Im ersten wird die enge Verbindung von sozialer Bewegung und Regionalbewegung untersucht, der zweite Teil widmet sich den Regionalkulturen, während im dritten vorwiegend europäisch Regionalbewegungen behandelt werden. Im vierten Teil geht es um regionale Wirtschaftsentwicklung und im fünften um das Aufzeigen der Möglichkeiten alternativer Regionalpolitik. Der letzte Abschnitt behandelt die Region "Nordfriesland", ein Thema, das in diesem Rahmen leider nicht die angemessene Behandlung erfährt, die diese schöne Landschaft mit ihrer Geschichte, Sprache, Kultur usw., mit ihren Problemen eigentlich verdient hätte.

[ 1 ] Fried Esterbauer, Grundzüge der Formen und Funktionen regionaler Gliederung in politischen Systemen, in: ders. (Hrsg.), Regionalismus, Wien 1979, S. 44 f.

[ 2 ] Vgl. Joseph S. Nye, Pease in Parts. Integration and Conflict in Regional Organization, 1971

[ 3 ] Vgl. Wilfried Lang, Der internationale Regionalismus, Wien/NY 1982

[ 4 ] Vgl. Fried Esterbauer, S. 45


Nach oben
Druckversion
Weiter



Inhalt der Diplomarbeit

Einleitung
Neueinleitung
Modernisierung
Traditionelle Gesellschaften
Moderne Gesellschaften
Integration und Weltgesellschaft
Das Weltwirtschaftssystem
Das internationale politische System
Differenzierung und Regionalismus
Regionalismus und soziale Bewegungen
Zur Entstehung von Regionalkulturen
Europäische Regionalbewegungen
Regionale Wirtschaftsentwicklung
Alternative Regionalpolitik
Nordfriesland
Zur Geschichte Nordfrieslands
Zur Sprache Nordfrieslands
Schlußbemerkungen
Literaturverzeichnis

Anhänge

Der Nationalismus
Staat, bürgerliche Gesellschaft und Rätedemokratie

Startseite   Friesisch   Regionales   Vermischtes   Links   Impressum