Regionalismus und Weltgesellschaft


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Integration und Weltgesellschaft

Eine Theorie der gesellschaftlichen Evolution, die die in ihr auftretenden innovativen Schübe erklären möchte, stützt sich auf drei Annahmen: Erstens auf die Logik möglicher Entwicklungen der Dimensionen Produktivkräfte, Steuerungskapazitäten, Interaktionsstrukturen und Weltbilder; zweitens auf jene Mechanismen und Randbedingungen, die es im nachherein gestatten, tatsächlich eintretende Entwicklungen erklären zu können; drittens auf Aussagen über krisenerzeugende Disproportionalitäten zwischen Entwicklungen der verschiedenen Dimensionen, die teils innovativ, teils unproduktiv verarbeitet werden. [ 1 ]

Übrig bleibt ein Substrat auf soziokultureller Ebene, das einerseits allgemeine Systemeigenschaften, andererseits besondere Konstituenten aufweist. Erfahrungswissenschaftlich kulturelle Universalien wie Sprache, Arbeit, Interaktionen und Deutungssysteme lassen sich anthropologisch und entwicklungspsychologisch gesehen als Sprachkompetenz, kognitive Kompetenz und Rollenkompetenz analysieren. Funktionalistische Theorien, die die gesellschaftliche Entwicklung erklären wollen, sind deswegen unzureichend, weil auf jeder soziokulturellen Stufe der Evolution die allgemeinen Systemeigenschaften durch besondere Konstituenten eingeschränkt werden. [ 2 ]

Die soziokulturellen Systeme, die über das Medium umgangssprachlicher Kommunikation, d. h. über die wahrheitsfähigen Äußerungen vergesellschafteter Individuen gesteuert werden [ 3 ], unterscheiden sich wesentlich von Maschinen, Organismen oder kybernetischen Regelkreisen. [ 4 ] Die Einheit der Welt, die Einheit der Geschichte bahnt sich nicht allein unter dem Aspekt wachsender Interdependenzen und erweiterter Steuerungskapazitäten an. [ 5 ]

Unter horizontaler Integration wird vor allem die Eliminierung der Gewaltanwendung zwischen territorial definierten Teileinheiten von Staatsbevölkerungen verstanden. Ein solches Gebilde ist in dem Sinne als politische Gemeinschaft zu bezeichnen wie "Gewaltanwendung zwischen territorial definierbaren Teileinheiten prinzipiell tabuiert, gegenüber anderen politischen Gemeinschaften dagegen prinzipiell legitimiert ist". [ 6 ] Die Mitglieder der Gewaltverzichtsgruppe oder der Friedensgemeinschaft fühlen sich untereinander solidarisch. Wenn hingegen die politische Gemeinschaft eine eigene politische Organisation besitzt, den souveränen Staat also, dann liegt hier der Typus des Nationalstaates vor, also die Institution des Staates als Kristallisationspunkt politischer Loyalität und Identifikation. [ 7 ]

Loyalität und Identifikation betreffen aber nicht unbedingt die Repräsentanten des Staates. Die Frage der vertikalen Integration wirft auch die Problematik der sozialen Schichten und Klassen auf. Es bestehen möglicherweise scharfe soziale Gegensätze und die sozialen und materiellen Kämpfe um bessere Positionen können gewaltsam ausgetragen werden, ja es finden sogar Revolutionen statt, ohne daß der Staat an sich als oder Institution gefährdet ist. [ 8 ]

Es gibt jedoch eine spezielle Variante mangelnder vertikaler Integration, die für den territorialen Bestand eines Staates unter Umständen Folgen haben kann. Diese Variante, die gleichermaßen Regionalbewegungen und nationale Befreiungsbewegungen betrifft, charakterisiert Fröhlich folgendermaßen: "Wenn die soziale Oberschicht und die politischen Eliten mit einem territorial definierbaren Bevölkerungsteil identifizierbar sind, z. B. mit einer sprachlichen, rassischen, ethnischen oder religiösen Gruppe, (...) besteht die Gefahr einer Verbindung von sozialem und territorialem Konflikt. Es entsteht die Situation drohender Sezession, in der entfremdete Gruppen die Forderung nach eigenem Territorium und eigener politischer Organisation erheben." [ 9 ]

Die Integrationstheoretiker glaubten anhand der funktionalistischen Interpretation organisatorischer Abläufe daran, daß eine Automatik und Zwangsläufigkeit im weltweiten Einigungsprozeß erkennbar ist. Es erwies sich jedoch im Lichte des Dekolonialisierungsprozesses, daß das europäische Modell für die Bedingungen der Dritten Welt untauglich ist. Um aus der Stagnation der Integrationstheorien herauszukommen, sollten vielmehr Umweltelemente und die Variablenvielfalt innerhalb ihrer Wechselbeziehung berücksichtigt werden. [ 10 ]

Damit wird allerdings der Begriff "Integration" überfordert. Er bedeutet zuviel auf einmal. Er soll die Sektoren, auf denen diese Vorgänge stattfinden, ebenso erfassen wie die Wertvorstellungen und Verhaltensweisen der Teilnehmer. Transaktionen und Kommunikationen sind genauso wichtig wie die Rolle wie Institutionen. Die Beziehungen zwischen Menschen und Gruppen sollen mit Hilfe dieses Konzeptes ebenso erklärt werden wie die unterschiedlichen Entwicklungen von Staaten. [ 11 ]

Auf die Blickrichtung gesellschaftlicher Entwicklung verengt, die von der Verdichtung, des Zusammenwachsens und der schrittweisen Verklammerung ursprünglich getrennter verschiedener Einheiten ausgeht, erweckt das Integrationstheorem den Anschein, als sei "Desintegration nur eine vorübergehende kaum legitime Entwicklung, eine Abweichung, die höchstens als Pause, als Innehalten Beachtung und Duldung verdient". [ 12 ] Für Winfried Lang sind hingegen die Prozesse der Integration und der Desintegration Phasen ein und desselben Vorgangs, "denen nur im Lichte der Wertvorstellung des Betrachters eine unterschiedliche Gewichtung zukommt". [ 13 ] Seiner Auffassung nach ist eine regionalen Prozessen betrachtende Theorie geeigneter, ein "ausgewogenes Bild" gesellschaftlicher Entwicklungen von Räumen zu vermitteln. [ 14 ]

Auf die Frage, ob die bisherige bürgerliche oder nationale Identität ohne weiteres um eine weltbürgerliche erweitert werden kann, antwortet Habermas, daß die Menschheit im Ganzen ein Abstraktum bleibt. Sie kann nicht wie Stämme oder Staaten eine Identität ausbilden, denn diese wird nur an etwas anderem, am Fremden erkennbar. Das ist für die Menschheit im Ganzen nicht möglich, es sei denn, sie schlösse sich gegen eine andere Populationen im Weltraum zu einer partikularen Einheit zusammen. [ 15 ]

Anders beim Individuum: Wenn Gruppenidentitäten nicht mehr über Familie, Stadt, Region, Nation oder Staat als Privileg gerechtfertigt werden, wenn Menschen angesichts der Akzeptanz universalistischer Werte andere Individuen nicht länger als Fremde anzusehen sind, da sie anderen Gruppen nicht mehr zugehören, dann erst kann von einem Status eines Weltbürgers gesprochen werden. Der eine ist für den anderen Bürger beides in einem: "absolut verschieden, Nächster und Fernster in einer Person". [ 16 ] Bezogen auf die Identität des Ichs läßt sich das paradoxe Verhältnis so ausdrücken: Das Ich ist als Person mit allen anderen Personen gleich, als Individuum aber von allen anderen Individuen verschieden. Das Ich ist sowohl das absolut Allgemeine als auch das absolut Vereinzelte. [ 17 ]

Die neue Identität einer staatenübergreifenden Weltgesellschaft kann sich weder auf ein bestimmtes Territorium beziehen, noch auf eine bestimmte Organisation stützen. Es kann weder eine Staatsangehörigkeit noch eine über Mitgliedschaften geregelte Zugehörigkeit geben. Eine neue kollektive Identität ist eventuell nur noch in reflexiver Gestalt denkbar. Eine Teilnahme müßte im Bewußtsein allgemeiner und gleicher Chancen an solchen Kommunikationsprozessen erfolgen, in denen Identitätsbildung durch einen kontinuierlichen Lernprozeß bewirkt werden kann. [ 18 ]

Der auf die politische Gewalt ausgedehnte Universalismus müßte dabei auf einer auf vernünftige Rede begründbaren kommunikativen Ethik beruhen. Sie müßte weltbildfrei sein und alle ideologischen, nur dem Scheine nach allgemeinen Legitimationen in Frage stellen. Sie müßte alle faktischen Gewalt- und Herrschaftsverhältnisse unter Begründungszwang setzen. [ 19 ] Habermas: "Nur eine universalistische Moral, die allgemeine Normen (und verallgemeinerungsfähige Interessen) als vernünftig auszeichnet, kann mit guten Gründen verteidigt werden, und nur der Begriff einer Ich-Identität, die zugleich Freiheit und Individuierung des einzelnen in komplexen Rollensystemen sichert, kann heute eine zustimmungsfähige Orientierung für Bildungsprozesse angeben." [ 20 ]

Im Rahmen der Weltgesellschaft kann es keine partikularen Zwischenstufen, Wertsysteme oder Normen geben. Nur allgemeine Normen sind vernünftig. Sie sichern die Reziprozität der Rechte und Pflichten eines jeden gegenüber jedem. Wird diese interaktive Reziprozität zum Prinzip erhoben, dann kann das Ich sich nicht länger mit partikularen Rollen oder vorgefundenen Normen identifizieren. Das Ich muß bei einer Überprüfung damit rechnen, daß die ihm eingewöhnten traditionellen Lebensformen sich als partikular und unvernünftig erweisen. [ 21 ]

Die identitätsverbürgenden universalen Deutungssysteme, die die Stellung der Menschen in der Welt veranschaulichen sollen, speisen sich aus der kritischen Aneignung von Traditionen. Universelle Weltbilder unterscheiden sich von traditionellen nicht so sehr durch einen weiterreichenden Horizont, sondern durch einen jederzeit revidierbaren Status. [ 22 ] Die bisherige kulturelle Überlieferung, die klare Gruppenidentitäten mit naiven Innen-Außen-Differenzierungen zwischen Stammes- oder Staatsangehörigen oder -fremden herzustellen vermochte, kann eine identitätssichernde Totalität, eine ganzheitliche Interpretation der Welt, der Natur und der Geschichte nicht mehr liefern. [ 23 ]

Der Umstand, daß Menschen sich in Institutionen nur als allgemeine Personen verkörpern, sich gleichzeitig aber nur als konkrete Individuen, als etwas Vereinzeltes betrachten und ohne Gruppenbindung nur sich selbst zum Bezugspunkt haben können, führte bei Thomas Hobbes zu folgender Konsequenz: Im Naturzustand sind die Menschen gezwungen, mangels fehlender Lebensmittel und um des Überlebenswillen, sich nicht nur mit der Natur auseinanderzusetzen, sondern sich auch gegenseitig die aus dem Kampf mit der Natur erworbenen Früchte, die nicht für alle reichen, streitig zu machen. In einem solchen Krieg jeder gegen jeden muß der Mensch den jeweils anderen Menschen als potentiellen Gegner betrachten. Das veranlaßt die Menschen dazu, einen Vertrag untereinander zu schließen und sich dem Willen eines Souveräns zu unterwerfen. Der die staatliche Macht verkörpernde Souverän sorgt innerhalb der Grenzen eines souveränen (National)staates dafür, daß sich die in ihr lebenden Menschen als Untertanen der Gewalt enthalten. Andererseits ergreift der Souverän Maßnahmen, um die im Staat versammelten Untertanen vor äußeren Feinden zu schützen.

Da in der hier geschilderten Konstruktion der Souverän auch nur ein Mensch ist wie jeder andere oder im Fall einer Demokratie mehrere Menschen sich die Macht des Souveräns teilen, ist es denkbar, daß auch ein Souverän in seiner Macht nicht absolut, sondern höchst fehlbar ist. Er ist mit denselben Schwächen behaftet wie alle anderen Menschen auch. Es besteht daher immer wieder die Gefahr des Rückfalls in den Naturzustand. Selbst in der Weltgesellschaft, die ja keine äußeren Feinde mehr kennt und die alle Menschen umfassen, bliebe jener Zustand bestehen, den Habermas einmal als latenten Krieg zwischen Weltbürgern beschrieben hatte. [ 24 ]

Anmerkungen

[ 1 ]
Vgl. Jürgen Habermas, Über das Subjekt..., S. 397

[ 2 ]
Vgl. ebd.

[ 3 ]
Vgl. ebd.

[ 4 ]
Vgl. Jürgen Habermas, Einleitung zur Neuausgabe. Über die Schwierigkeiten beim Versuch, Theorie und Praxis zu vermitteln, in: ders, Theorie und Praxis, Ffm 1974, S. 19

[ 5 ]
Vgl. Jürgen Habermas, Über das Subjekt..., S. 397

[ 6 ]
Vgl. Dieter Fröhlich, S. 473

[ 7 ]
Vgl. ebd.

[ 8 ]
Vgl. ebd.

[ 9 ]
Dieter Fröhlich, S. 473

[ 10 ]
Vgl. Winfried Lang, S. 1 f.

[ 11 ]
Ebd., S. 4

[ 12 ]
Vgl. ebd, S. 4 f.

[ 13 ]
Vgl. ebd., S. 5

[ 14 ]
Vgl. ebd.

[ 15 ]
Vgl. Jürgen Habermas, Können komplexe..., S. 96

[ 16 ]
Vgl. ebd.

[ 17 ]
Vgl. ebd., S. 95

[ 18 ]
Vgl. Jürgen Habermas, Können komplexe..., S. 116

[ 19 ]
Vgl. Jürgen Habermas, Über das Subjekt..., S. 391

[ 20 ]
Jürgen Habermas, Können komplexe..., S. 96

[ 21 ]
Vgl. ebd., S. 95

[ 22 ]
Vgl. ebd., S. 117

[ 23 ]
Vgl. Jürgen Habermas, Über das Subjekt..., S. 392

[ 24 ]
Vgl. Jürgen Habermas, Zur Kritik an der Geschichtsphilosophie, in. ders., Kultur und Kritik, Ffm 1973, S. 368


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Inhalt der Diplomarbeit

Einleitung
Neueinleitung
Modernisierung
Moderne Gesellschaften
Integration und Weltgesellschaft
Das Weltwirtschaftssystem
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Differenzierung und Regionalismus
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Zur Entstehung von Regionalkulturen
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Regionale Wirtschaftsentwicklung
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Anhänge

Der Nationalismus
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