Regionalismus und Weltgesellschaft


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Regionalismus und soziale Bewegungen

Die Beschäftigung mit der konkreten Region, mit allen Einzelheiten, die in ihr enthalten sind, darf nicht den Blick für das Allgemeine, für das Zusammenhängende aus den Augen verlieren. Eine Analyse regionalen Geschehens oder regionaler Gegenbewegungen, entsprechendes gilt auch für ethnischen Minderheiten auf nationaler oder internationaler Ebene, sollte folgendes berücksichtigen: Nur in ihrer Erscheinungsform, vor Ort also, in der konkreten Region, lassen sich Voraussetzungen, Ansätze und Verlaufsformen strukturverändernder Prozesse in ihrem Wesen nach erkennen.

Die allgemeinen evolutionären Prozesse der Integration und Differenzierung wirken sich in ihrer konkreten Ausprägung unterschiedlich aus. Nur vor Ort können die auf die Region einwirkenden Faktoren in ihrer Gewichtung sichtbar gemacht, also auch retardierende oder beschleunigende Momente festgestellt werden. Nur so lassen sich in einer von Mensch und Natur geprägten Landschaft die traditionellen, aber auch modernistischen Elemente begreifen, die für die Ausformung gesellschaftlicher Strukturen wie Klassen, Schichten usw. eine Rolle spielen. So wie am konkreten Ort das Vereinzelte, das Besondere sichtbar wird und diese von daher Rückschlüsse auf ein Allgemeines ermöglichen, lassen sich allgemeine Sätze wiederum nur überprüfen, wenn der konkrete Ort aufgesucht wird, in dem das Allgemeine sichtbar wird.

In diesem Sinne ist es die Aufgabe der Regionalforschung, Wirkungszusammenhänge unverwechselbarer regionaler Strukturen und landschaftlicher Ausformungen zu analysieren. Die Regionalanalyse muß etwas über die territoriale Identität, etwas über die Besonderheiten menschlichen Zusammenlebens in einem begrenzten räumlichen Lebensraum aussagen können. Die Wirksamkeit und die Folgen einer Regionalplanung muß ebenso ins Kalkül gezogen werden wie die allgemeinen Auswirkungen wirtschaftlichen und sozialen Wandels. Weiter sollte auch dem Drängen und Forderungen politischer Alternativen gegenüber herkömmlichen politischen Entscheidungsstrukturen, also hinsichtlich ihrer dezentralen, selbstbestimmten und demokratischen Kriterien nachgegangen werden.

Die Inbeziehungsetzung von "Differenzierung" mit "Regionalisierung" besagt nicht, daß die Gesellschaft nun zum Alten und Einfachen hintendiert, sich wieder zu alten erstarrten Lebensformen zurückentwickelt. Es hieße in der Konsequenz nur, sich in einer Unwirtlichkeit einer Lebensweise zu begeben, die dem "Mängelwesen" Mensch mit seiner minderen Organausstattung [ 1 ] auch nicht die geringste Lebenschance ließe. Differenzierte Lebensformen und Gesellschaftsstrukturen sind mit den undifferenzierten und verfestigten Traditionsbeständen von älteren oder primitiven Lebensgemeinschaften unvereinbar, da diese nicht mehr die für die Individuen wichtigen und notwendigen Entfaltungsmöglichkeiten und Spielräume erlauben.

Tönnies hatte die mit dem Prozeß der Modernisierung einhergehende gegenläufige Entwicklung bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts gekennzeichnet. Er sah es als typisch an, daß rückwärtsgewandte Bewegungen mit Formeln wie "Zurück zur Natur" oder "Zurück zu den alten Lebensformen und einfachem Leben" Verlorengegangenes wenn nicht wiedergewinnen, so doch nachhaltig beschwören wollten. Der modernistisch geprägten Zivilisation seien noch Reste der "bäuerlich-bürgerlichen" und "geistig-adligen" Kultur verblieben, die nun gepriesen und idealisiert werden: "Antik wird modern. Man sehnt sich zurück zur Natur, (...) preist und pflegt alte Lebensformen, alte Sitten, findet an der Religion wieder Geschmack, entdeckt im Einfachen, Hausbackenen echten Stil, kunstgerechte Formen. Dies wiederholt sich von Zeit zu Zeit in rhythmischen Stößen. Industrie nutzt diese Mode aus wie andre. Der Geist der Gesellschaft bleibt derselbe. Er kann nicht über seinen eigenen Schatten springen." [ 2 ]

Die Entdeckung und Verwertung alter traditioneller Elemente kann durchaus konform in Übereinstimmung mit der kapitalistischen Entwicklung geschehen. Diese angebliche Vielfalt, die die Differenzierung ermöglicht, ist letztlich nichts anderes als ein erweitertes Warenangebot von Produkten, gefertigt von denjenigen, die gemerkt haben, daß sich regionalspezifische Traditionsbestände ganz gut vermarkten lassen. Eine allgemein verbreitete Ideologie der Heimattümelei und des Bodenständigen hilft ihnen noch dabei. Trotzdem sah Tönnies in der Vorwärtsrichtung der kapitalistisch bestimmten Vorwärtsentwicklung eine Möglichkeit ihrer Überwindung. In der Neugestaltung der ökonomischen Grundlagen könnte nach ihm die natürliche Wechselwirkung von Produktion und Konsumption wieder an die Stelle der "Überherrschaft" des beweglichen Kapitals, des Handels und des Verkehrs treten. Das Leben würde dann stabiler, ruhiger und gesünder werden und eine gepflegte Sitte und Kunst ermöglichen. [ 3 ]

Auf die jugendliche Subkultur Anfang der siebziger Jahre bezogen weist Habermas auf ein ähnliches Phänomen hin. Damals war es ausgezeichnet gelungen, die Mitte bis Ende der sechziger Jahre entstandene studentische Protestbewegung in unpolitische und konsumorientierte Bahnen zu lenken oder zu kanalisieren. Die neuartigen Bedürfnisse der Jugendlichen wurden mit Erfolg der marktwirtschaftlichen und industriellen Verwertung unterzogen. Habermas sah im Entstehen der jugendlichen Subkultur aber nicht nur ihre Vereinnahmung durch den flexibel reagierenden Markt, sondern erkannte in ihnen, durch die Nachklänge der studentischen Protestbewegung beeinflußt, auch ein Potential für politische Veränderungsmöglichkeiten. [ 4 ] Zu diesem Potential zählte er insbesondere die alternative Bewegung, die Grünen und die Friedensbewegung. Von ihnen erhoffte er sich eine neue Qualität menschlichen Zusammenlebens. [ 5 ]

Warum sollte sich der Mensch durch "Rückbesinnung auf die Vorteile des Kleinen und Überschaubaren" [ 6 ] nicht eine Besinnungspause gewähren, naiv gesehen, ein Innehalten, welches ihn kurzerhand in die Lage versetzt, all das infrage zu stellen, was ihm über den Kopf zusammenzuschlagen droht? Hat der Mensch die ihm undurchschaubaren Strukturen und übermächtigen Formen einer durch internationale Einflüsse geprägten weltweiten Einheitskultur, von Großtechnologien und anonymen Mammutstädten mit ihrem Massenverkehr zu schweigen, eigentlich so gewollt? Wem und was nützt ein solcher Fortschritt? Und welche Perspektiven des menschlichen Lebens gibt es in einer sogenannten Weltgesellschaft? Ist es nicht auffallend, daß gerade die Propagandisten der "konservativen Wende" - die in der Familie die geheiligte Werte sehen und das alte Sozial- und Traditionsgefüge retten möchten - die Wegbereiter der arbeitssparenden technologischen Entwicklung und des hemmungslosen Fortschritts sind?

Es ist nicht verwunderlich, daß angesichts dieser Fragen eingestellte Bewegungen, ökologischer, alternativer und nicht zuletzt regionaler Art, entstanden sind. So nahmen regionale Bewegungen sich z. B. den Forderungen nach politischer, wirtschaftlicher und kultureller Autonomie in meist zurückgebliebenen Gebieten an. Sie wollten auf ihre "Provinz" mit eigenständiger Kultur und eigenen, wenn auch immer weniger gesprochenen Sprachen oder Mundarten aufmerksam machen. Sie waren der Ansicht, daß traditionelle und historisch gewachsene Kulturlandschaften ebenso geschützt und dieselbe öffentliche Aufmerksamkeit erfahren sollten wie die Natur und die Landschaft angesichts ökologischer Gefahren.

Vor allem die Auswüchse der Modernisierung, die, durch den wissenschaftlich-technischen Fortschritt bedingt, auf eine mit Zentralisierung verbundene wirtschaftliche Entwicklung hinauslaufen, haben gleichermaßen konservative und linke Kritiker auf den Plan gerufen. Konservative Warner sind beispielsweise Arnold Gehlen [ 7 ] und Helmut Schelsky. [ 8 ] Ihre Gegenspieler sind vor allem Herbert Marcuse [ 9 ] und Jürgen Habermas, die der "Frankfurter Schule" bzw. der "Kritischen Theorie" zuzurechnen sind. [ 10 ] Die immer komplexer werdende staatliche Bürokratie, bzw. die immer mächtiger werdende industrielle Superstruktur und die damit verbundenen gesellschaftlichen Sachzwänge, erweisen sich immer weniger als menschengerecht. Sie zeigen sich dem Menschen immer mehr als undurchschaubar und allmächtig.

Dem Bedauern "neokonservativer" Kulturkritikern, vor allem deren Hauptvertreter Daniel Bell [ 11 ], setzt Habermas kritisch entgegen: "Dieses Unbehagen ist nicht von modernistischen Intellektuellen hervorgerufen, sondern wurzelt in den tieferliegenden Reaktionen auf eine gesellschaftliche Modernisierung, die unter dem Druck der Imperative von Wirtschaftswachstum und staatlichen Organisationsleistungen immer weiter in die Ökologie gewachsener, in die kommunikative Binnenstruktur geschichtlicher Lebenswelten eingreift." [ 12 ]

Den Neokonservatismus sieht Habermas als eine politische Werthaltung an, die "bei uns im Laufe der siebziger Jahre über die Presse in den politischen Alltag eingesickert ist" und dem einfachem Schema folgt: "Die moderne Welt gilt als die Welt des technischen Fortschritts und des kapitalistischen Wachstums; modern und wünschenswert ist jede soziale Dynamik, die letztlich auf private Investitionen zurückgeht; schutzbedürftig sind auch die Motivbestände, von denen diese Dynamik zehrt. Gefahr droht hingegen von kulturellen Wandlungen, von Motiv- und Einstellungswechseln, von Verschiebungen in den Wert- und Identitätsmustern, die kurzschlüssig auf den Einbruch kultureller Innovationen in die Lebenswelt zurückgeführt werden. Deshalb soll der Traditionsbestand nach Möglichkeit eingefroren werden" [ 13 ].

Ein an Wohlstand und materiellen Werten orientiertes Denken ist durchaus als aufgeschlossen gegenüber den modernen Entwicklungsprozessen zu betrachten. Diese werden als positiv, gesellschaftsintegrierend und zukunftsbildend gegenüber den traditionellen, beengenden und einschränkenden Verbundenheiten gemeinschaftlicher Art angesehen. [ 14 ] Spätestens ab 1968 entwickelten sich jedoch Konflikte, die von den bisherigen Mustern sozialstaatlicher und institutionalisierter Verteilungskonflikte abwichen. Diese werden nicht mehr über Parteien und Verbände kanalisiert, welche etwa im sozialen Lebensbereich entstehende Konflikte mit systemkonformen Entschädigungen zu beschwichtigen versuchen. Den neuen Konflikten ist mit Hilfe geldlicher Mittel ebensowenig beizukommen wie außerparlamentarischen Protesten mit staatlicher Macht innerhalb der subinstitutionellen soziokulturellen Reproduktionsbereiche. [ 15 ]

Nach Ronald Inglehart [ 16 ] treten immer mehr "materialistische" Sicherheits- und Versorgungsbedürfnisse hinter den sogenannten "postmaterialistischen Werten" zurück. [ 17 ] Nichtmaterialistische Bedürfnisse wirken sich nach Marcuse aber "transzendierend", also systemüberwindend aus. Das heutige "spätkapitalistische" System befriedigt angesichts der beispielslosen Dynamik der wohlstands- und konsumorientierten Gesellschaft nicht mehr die Bedürfnisse, die sie selbst hervorbringt und weckt. [ 18 ] Wird den Imperativen staatlicher Macht und materieller bzw. wirtschaftlicher Bedürfnisbefriedigung stattgegeben, setzt das Phänomen ein, was Habermas mit "Kolonisierung der Lebenswelt" umschreibt. [ 19 ]

Gemeint ist, daß die Systemimperative derart massiv in den soziokulturellen Bereich der Lebenswelt eingreifen, daß der sensible und lebenswichtige Sozialisationsbereich der Familie nicht mehr in der Lage ist, vernünftige Identitäten auszubilden. Aus einem mißglückten Sozialisationsprozeß gehen am Ende beschädigte oder unvollständig ausgebildete Individuen hervor, die später den Anforderungen des kapitalistisch gesteuerten Produktionsprozesses und des funktional gegliederten gesellschaftlichen Gesamtsystem nicht gewachsen sind und daher ausgegrenzt bleiben. Das für das Gesamtsystem nicht benötigte "Menschenmaterial" stellt schließlich das Potential für die ausgegrenzte Subkultur dar. Das äußert sich - sofern dessen Bedürfnisse und Darstellungsformen vom kapitalistischen System nicht selbst integriert, d. h. konsumtiv aufgesogen oder von sozialstaatlicher Seite mit monetären Entschädigungen beschwichtigt und damit stillgestellt werden - in sozialen Unruhen und Jugendprotesten, in Häuserbesetzungen und gewalttätigen Ausschreitungen. Nur im günstigen Fall wählen die Betroffenen zivilere Aktionsformen, welche dann in Bürger-, Alternativ-, Ökologie-, Friedens-, Regional- und anderen Bewegungen münden.

Unter den Anhängern dieser Bewegungen ist jenes Potential zusammengefaßt, welches einen allgemeinen "Wertezerfall und Sinnverlust" repräsentiert. Die "kaputte" Gesellschaft gestattet ihren Mitgliedern keine Identifikationsmöglichkeit mehr. Unter dem Etikett der "postmaterialistischen" Bedürfnisse verbirgt sich nach Habermas ein "Interesse an erweiterten Spielräumen der Selbstverwirklichung und der Selbsterfahrung, eine gesteigerte Sensibilität für die Schutzbedürftigkeit natürlich und historisch gewachsener Umwelten, auch ein geschärfter Sinn für verletzbare, interpersonale Beziehungen". [ 20 ]

Die Ziele der oben genannten Bewegungen richteten sich u. a. gegen die Anonymität undurchschaubarer Strukturen in der Gesellschaft. Man besinnt sich auf solche Traditionen, die schöpferisch und in differenzierter Form für ein menschlicheres Zusammenleben genutzt werden können. Traditionen werden jedoch nicht dadurch zum Leben erweckt, merkt Habermas kritisch an, indem auf das angeblich "Gute" dieser Traditionen nur hingewiesen wird. Die nicht wiederherstellbaren Bestände einer natürlichen Umwelt und die symbolischen Strukturen einer Lebenswelt - egal ob als historisch entstandene oder als neu eingelebte moderne Lebensformen - bedürfen gleichermaßen des Schutzes. Geschützt werden können sie wiederum nur, wenn wir wissen, wodurch sie sie bedroht sind. [ 21 ]

Die engagierten politischen Bewegungen reagierten nach Habermas auf die Leiden und die Entzugserscheinungen einer kulturell verarmten und einseitig rationalisierten Alltagspraxis. So "dienen askriptive Merkmale wie Geschlecht, Alter und Hautfarbe, auch kommunale Nachbarschaft und Konfessionszugehörigkeit dem Aufbau und der Abgrenzung von Gemeinschaften, der Herstellung subkulturell abgeschirmter Kommunikationsgemeinschaften, die der Suche nach persönlicher und kollektiver Identität entgegenkommen. Die Aufwertung des Partikularen, Gewachsenen, Provinziellen, der überschaubaren sozialen Räume, der dezentralen Verkehrsformen und entspezialisierten Tätigkeiten, der segmentierten Kneipen, der einfachen Interaktionen und entdifferenzierten Öffentlichkeiten soll die Revitalisierung verschütteter Ausdrucks- und Kommunikationsmöglichkeiten fördern. In diesem Zusammenhang gehört auch der Widerstand gegen reformerische Eingriffe, die sich ins Gegenteil verkehren, weil die Mittel ihrer Implementierung den erklärten sozialintegrativen Zielen zuwiderlaufen." [ 22 ]

Vielleicht wäre es tatsächlich möglich, daß neue von alten traditionellen Lebensweisen entbundene Lebensformen entständen, die über erweiterte Erfahrungsmöglichkeiten verfügten und deren Mitglieder im stärkeren Umfang mit der neuesten Technik vertraut wären. Die sich allerdings nur dann sinnvoll einsetzen ließen, wenn nicht mehr vom Standpunkt der Beherrschung der inneren und äußeren Natur, einschließlich der die Menschen beherrschende Technologie, sondern von der Hege, Pflege und Bewahrung der Umwelt statt derzeitiger Zerstörung ausgegangen wird. So verstanden könnten moderne Lebensformen durchaus der Erhaltung schützenswerter Landschafts- und Naturräumen dienen. So verstanden könnten in ihnen auch historisch gewachsene Regionalkulturen besser integriert und zur Geltung gebracht werden.

Werden nichtmaterielle Bedürfnisse in die kollektive Willensbildung einbezogen, so bahnen sich sogleich neue Konstellationen in Verhältnis von Politik und Lebenspraxis an. Es entwickeln sich neue solidarische Beziehungen zwischen Gruppen, Generationen und Geschlechtern, ebenso entsteht ein anderes Verhältnis der menschlichen Subjekte zur äußeren Natur. Es bahnt sich eine "Entstaatlichung" der Politik an [ 23 ], die sich z. B. dadurch ausdrückt, daß sich die planenden Verwaltungen angesichts massiver Proteste mit den Adressaten oder Betroffenen "ins Benehmen" setzen, daß sie unter dem Druck der Bürgerinitiativen gezwungen sind, Planungen zu ändern oder sogar zurückzunehmen. [ 24 ]

Die häufig diffus auftretenden wert- und normbildenden Kommunikationsvorgänge bereits entdifferenzierter und quasi autonomer Lebensbereiche treten unter Umständen auch in die Poren der bestehenden Lebensbereiche der Gesellschaft ein, die organisationsförmig straffer geordnet sind. Zum Beispiel ist nicht zu verkennen, daß die Künste in den letzten Jahrzehnten zwar immer esoterischer werden, andererseits immer mehr ihren auratischen Schein verlieren. Die Künste verließen die Museen und Theater, die Konzertsäle und Bibliotheken, um selbst in die Lebenspraxis einzutreten. Dort im Alltagsleben, auf der Straße, in der Region werden Erfahrungen gesammelt, wird der sensible Bezug zu Umwelt und Natur hergestellt, werden Wahrnehmungen stimuliert und Sprachroutinen geändert. [ 25 ]

In der Bundesrepublik gibt es bislang keine ausgesprochenen Regionalbewegungen wie in den anderen westeuropäischen Nachbarstaaten. Ansatzweise vergleichbare Bewegungen waren bei uns nur in solchen Bürgerinitiativen sichtbar, die sich gegen zentrale Politikverflechtungen wenden oder sich in den betroffenen Regionen z. B. gegen die ökologische Bedrohung durch Kernkraftwerke oder atomarer Entsorgungszentren richteten. [ 26 ]

Bürgerinitiativen und mit ihnen verbundene soziale Bewegungen setzen der allumfassenden Reglementierung durch bürokratische Planung und staatlicher Zwangsmaßnahmen, selbst wenn die ängstlich gewordenen Bürger sich diese Übermächtigkeit nur einbilden, weitgehend Spontaneität und Kreativität entgegen. [ 27 ] Sie streben nach besserer Wohnumwelt und selbstbestimmter Arbeit. Quantifizierenden meßbaren monetären Größen abhold, richten sie ihre Werte eher an der Qualität unzerstörter Natur und lebenswerter regionaler Kulturlandschaft aus. Von daher wäre es verkehrt, die regionalen Unruhen in Europa unter dem negativen Vorzeichen von Zersplitterung, Kleinstaaterei, Provinzialismus oder "Balkanismus", gar als Regreß auf mittelalterliche Verhältnisse einzuschätzen. Ebenso unreflektiert ist es aber auch, in romantischer Art diese Unruhen mit revolutionärer Aktion gleichzusetzen. [ 28 ]

Zwei Gruppen sind zu unterscheiden, die ihren Unmut in der Region äußern. Zum einen ist es die "hiesige" Bevölkerung, die mit ihren Aktionen ein Stück überkommener und seit Jahren vertrauter Umwelt erhalten wollen und die die dauerhaften modernistischen Einbrüche in ihrem Leben als schmerzhaft empfinden. Oder es sind zugezogene "Neubürger", die entweder, in selbstgewählter alternativer Entscheidung, der Enge der Großstadt entflohen sind und ihre "neugefundene Lebenswelt" jetzt unbeschadet erhalten möchten. Zu ihnen gehören auch jene, die "als Bestandteil der Laufbahn" beruflich in die Provinz verschlagen wurden und nun keinen neuerlichen "Identifikationsverlust" hinnehmen wollen. [ 29 ]

Anmerkungen

[ 1 ]
Vgl. Arnold Gehlen, Der Mensch, Wiesbaden 1978

[ 2 ]
Ferdinand Tönnies, S. 87

[ 3 ]
Vgl. ebd.

[ 4 ]
Vgl. Jürgen Habermas, Nachgeahmte Substantialität, in: Merkur, 24. Jg. (1970), S. 313 ff.

[ 5 ]
Vgl. Jürgen Habermas, Theorie des..., Bd. 2, S. 575 ff.

[ 6 ]
Vgl. Emil Küng, S. 405

[ 7 ]
Vgl. Arnold Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter, Reinbek 1976

[ 8 ]
Vgl. Helmut Schelsky, Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation, in: ders., Auf der Suche nach der Wirklichkeit, Düsseldorf/Köln 1965

[ 9 ]
Vgl. Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch, Neuwied/Berlin 1970

[ 10 ]
Vgl. Jürgen Habermas, Die Kulturkritik der Neokonservativen in den USA und in der Bundesrepublik, in: Neue Gesellschaft, 29. Jg. (1982), H. 11, S. 1024 ff.

[ 11 ]
Vgl. Daniel Bell, Die Zukunft der westlichen Welt, Ffm 1979

[ 12 ]
Jürgen Habermas, Die Moderne ein unvollendetes Projekt, in: ders., Kleine Politische Schriften (I-IV), Ffm 1981, S. 451

[ 13 ]
Jürgen Habermas, Die Kulturkritik..., S. 1029

[ 14 ]
Vgl. Gerhard Wurzbacher, S. 283

[ 15 ]
Vgl. Jürgen Habermas, Theorie des..., Bd. 2, S. 576

[ 16 ]
Vgl. Ronald Inglehart, Wertewandel und politisches Verhalten, in: Joachim Matthes (Hrsg.), Sozialer Wandel in Westeuropa, Ffm/NY 1979

[ 17 ]
Vgl. Jürgen Habermas, Theorie des..., Bd. 2, S. 576 f.

[ 18 ]
Vgl. Jürgen Habermas, Herbert Marcuse über Kunst und Revolution, in: ders., Kultur und Kritik, Ffm 1973, S. 346

[ 19 ]
Vgl. Jürgen Habermas, Theorie des..., Bd. 2, S. 489 ff.

[ 20 ]
Vgl. Jürgen Habermas, Die Kulturkritik..., S. 1027

[ 21 ]
Vgl. ebd., S. 1032

[ 22 ]
Jürgen Habermas, Theorie des..., Bd. 2, S. 581

[ 23 ]
Vgl. Jürgen Habermas, Herbert Marcuse..., S. 349

[ 24 ]
Vgl. Jürgen Habermas, Können komplexe..., S. 116

[ 25 ]
Vgl. ebd.

[ 26 ]
Vgl. Dirk Gerdes, Dimensionen des neuen Regionalismus in Westeuropa, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft, (1981), H. 3, S. 314

[ 27 ]
Vgl. Rainer S. Elkar, Regionalbewußtsein..., S. 53 f.

[ 28 ]
Vgl. Friedrich von Krosigk, Zwischen Folklore und Revolution: Regionalismus in Westeuropa, in: Dirk Gerdes (Hrsg.), Aufstand der Provinz, Ffm/NY 1980, S. 45

[ 29 ]
Vgl. Rainer S. Elkar, Regionalbewußtsein..., S. 54


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Inhalt der Diplomarbeit

Einleitung
Neueinleitung
Modernisierung
Moderne Gesellschaften
Integration und Weltgesellschaft
Das Weltwirtschaftssystem
Das internationale politische System
Differenzierung und Regionalismus
Regionalismus und soziale Bewegungen
Zur Entstehung von Regionalkulturen
Europäische Regionalbewegungen
Regionale Wirtschaftsentwicklung
Alternative Regionalpolitik
Nordfriesland
Zur Geschichte Nordfrieslands
Zur Sprache Nordfrieslands
Schlußbemerkungen
Literaturverzeichnis

Anhänge

Der Nationalismus
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