René Girard und das Ende der Gewalt

Girard zu lesen ist nicht einfach, ihn richtig zu interpretieren nicht weniger. Daß seine Thesen haltlos sein könnten, dieser Einwand greift nicht. Im Hinterkopf bleibt etwas zurück, eine gewisse Beunruhigung. Das hängt sicher auch damit zusammen, daß Girard es dem Leser nicht leicht macht, zu seinen Kernaussagen vorzudringen. Wer alle seine im deutschprachigen Raum veröffentlichten Schriften gelesen hat, kann sich kaum der Faszination des Autors entziehen. Daß seine Thesen auf wissenschaftlich gut fundierte Grundlagen beruhen, behauptet Girard gar nicht erst. Seine Schriften sind alle mit dem einzigen Ziel oder Frage zu lesen: Wie erreiche ich es, daß Menschen untereinander keine Gewalt mehr anwenden?

Die Antwort sucht Girard in zahlreichen mythologischen und religiösen Texten und Geschichtszeugnissen, die seiner Ansicht in verschlüsselter Form vom Gründungsmord berichten, um den Frieden von Gemeinschaften wiederherzustellen, die sich in einer Krise befunden hatten. Dabei versucht er aufzuzeigen, daß der Ursprung aller menschlichen Kultur im gemeinschaftlich getöteten Menschenopfer liegt. Wenn die mythologischen Texte auch sterotyp von den Verbrechen der Opfer und dem Zorn der Götter berichten, um den gemeinschaftlichen Mord zu rechtfertigen, so verbergen diese letztlich nur schlecht, "daß die Opfer unschuldig sind und die Gewalt nichts als Menschenwerk ist". Auch die Bibel ist für Girard eine unerschöpfliche Fundgrube zur Untermauerung seiner Thesen, die selbst dann noch profitabel genutzt werden kannn, wenn der Glaube an einen persönlichen Gott für viele weggefällt.

Der Kulturanthropologe René Girard ist Professor für französiche Literatur an der Universität Stanford/USA. Sein erstes in Deutschland veröffentlichtes Buch "Das Ende der Gewalt" (1978) erschien 1983 in einer leider unvollständigen Fassung. Sein erstes Buch überhaupt "Das Heilige und die Gewalt" (1972) war wie auch das 1982 erschienene Buch "Ausstoßung und Verfolgung" erst 1992 einer breiteren deutschen Öffentlichkeit zugänglich. "Hiob - Ein Weg aus der Gewalt" (1978) kam 1990 in Zürich heraus.

Die Rezeption Girards in der bundesdeutschen Öffentlichkeit geht nur langsam vonstatten. Nicht zuletzt durch Botho Strauß' Essay vom anschwellenden Bocksgesang wird der Name René Girard als Kronzeuge im Umgang mit Fremden genannt. Doch Strauß hat ihn nicht ganz verstanden. Girards Kulturtheorie besteht gerade darin, daß die jüdisch-christlische Glaubensbewegung die archaische Kultur mit dem einfachen Imperativ ablöste: "Beendet den kollektiven Mord! Rehabilitiert die Opfer! Tötet nicht!" Strauß ließ sich leiten von einer "vermeintlich immer noch funktionierenden Verehrung und Sakralisierung der Fremden vor ihrer Opferung". Sogar diese Aussage stimmt so nicht bei Girard. Antje Vollmer bzw. Thomas Ebermann/Rainer Trampert weisen darauf hin, daß Fremde in archaischen Gesellschaften tabu waren und unter besonderen göttlichen Schutz gestellt wurden. Untersucht man die Traditionen der Menschenopfer in verschiedenen Kulturen, so waren die Opfer in der Regel Nahestehende, "weil nur das Teuerste die Götter milde stimmen konnte".

In der Medea-Verfilmung von Pasolini ist eine Szene enthalten, in der man sogar den anschwellenden Bocksgesang hören kann. In Pasolinis Version des antiken Dionysos-Kults wird dem Gott "des gelungenen Lynchmords" (Girard) das Opfer gebracht. Dabei wird der Bocksgesang "von jungen Männern angestimmt, die in Schaffelle gewandet sind und phantastische Masken mit Widderhörnern tragen. Man könnte ihn als archaischen Singsang beschreiben, der sich beinahe unmerklich steigert. Während er noch in der Luft liegt, wird das Opfer zu den jungen Männern hinausgeführt. Es ist an den Händen gefesselt und lächelt scheu ob der Ehre, die ihm zuteil wird. Das Opfer wird von einer Prozession zu einer kleinen Anhöhe geleitet; dort steht ein Holzgerüst, das vage an ein Kruzifix erinnert. Das Opfer wird rituell mit Lehmfarbe bestrichen. Als man es zum Gerüst zerrt, wehrt es sich nur schwach - vermutlich ist auch dies Teil des Ritus. Dann geht alles sehr schnell. Der Gesang verstummt; zwei Maskierte binden den menschlichen Sündenbock fest und brechen ihn mit einem Balken das Genick. Ein weiterer Maskierter mit einer Axt nähert sich im Sturmschritt, er schneidet die Leiche von dem Gerüst los und zerhackt sie mit gekonnten Schlägen. Nun geschehen zwei Dinge gleichzeitig: Die Prozessionsteilnehmer strecken flache Tonschalen vor, um das körperwarme Blut aufzufangen, das für sie hingegeben wurde. Und ein Höllenlärm bricht an ... ein wüstes Maskenfest mit Trommeln, Tanzen und ekstatischen Gebärden beginnt." (Ebermann/Trampert 1995, S. 214)

Auch in der taz vom 17. Januar 1995 beschäftigte sich ein Artikel mit Girard. Hier geht der Autor Reginald Grünenberg der Frage nach, wie es zu den jugendlichen Ritualgemeinschaften in unserer liberalen Gesellschaft kommt. Nach Girard waren ja in einer archaischen Welt, "wenn die Ernte ausblieb, kein Wild mehr erlegt werden konnte, Seuchen ausbrachen oder die betroffene Gemeinschaft vor der Eroberung durch Feinde stand", der "Haß und der Neid der Mitglieder" aufeinandergerichtet. "Das Opfer wurde notwendig, um die alte Ordnung und Harmonie der Welt wiederherzustellen."

Grünenberg begeht jedoch in dieser Interpretation einen entscheidenden Fehler. Seiner Ansicht nach werden vorwiegend Fremde zum "schlachtreifen Sündenbock" gemacht. Nur wenn keine zu finden sind, werden die Mitglieder der eigenen Gemeinschaft in Fremde verwandelt, die die unkontrollierte Gewalt auf sich ziehen sollen, damit die Gemeinschaft sich nicht selbst zerstört. An dieser Argumentation stimmt nur, das das Opfer schon etwas Fremdartiges an sich haben muß, ein Stigma, ein Merkmal. Girard weist als schönes Beispiel auf den hinkenden König Ödipus im alten Griechenland hin. Oder auf die in der Mitte der Gemeinschaft lebenden Juden, die regelmäßig Opfer von Progromen wurden, wenn im Mittelalter die Pest über das Land zog.

Das Opfer ist heilig, besonders wenn das Liebste, das Erstgeborene, die unschuldige Jungfrau, zahlreiche Mythen und Märchen berichten davon, rituell zur Opferung dargebracht wird. Die Auserwählten erhalten bis zu diesem dabei unglaubliche Freiheiten und Privilegien bis hin zu den schlimmsten Tabubrüchen wie Inzest und Mord. Girard vermutet, daß das Königstum überhaupt auf diese Weise entstanden ist. Weil dem Opfer in der Zeit von der Auswahl bis zur Opferung Macht oder Narrenfreiheit eingeräumt wird, kann er diese auch nutzen, sie zu behalten.

Es ist interessant wie mitten innerhalb unserer modernen Kultur bedrohlich archaische Formen aus der Tiefe der Geschichte aufsteigen können. Das läßt sich vor allem an drei Erscheinungen festmachen: an vorpolitisch gewalttätigen Jugendlichen, die alle Symptome ritualbedürftiger Gemeinschaften zeigen. Dabei sind ihre affektiven und autoritären Bindungen so schlecht ausgeprägt sind, daß bei der "vagabundierenden randvollen Gewalt" jeder auf jeden anderen losgeht. Es sind "entdifferenzierte" Gemeinschaften, deren "blinder Opferhunger" mit der Hoffnung auf eine neue Ordnung verbunden ist. Diese Gruppen verfügen überhaupt über keine Regeln in ihrem kollektiven Verhalten.

Zur zweiten Gruppe zählt Grünenberg kultisch denkende und handelnde Rechtsradikale, die selektiv Gewalt für politische Ziele einsetzen. Sie bilden Ritualgemeinschaften von besonderer Gefährlichkeit. Die dritte Kategorie ist eng mit der liberalen, medial vermittelten "großen" Öffentlichkeit verbunden, die auf die ersten beiden Erscheinungsformen reagiert. Wie aber soll die liberale Gesellschaft mit diesen neuen Feinden umgehen? Wie ihre Hegemonie bewahren, ohne ihre eigenen Werte zu verraten? Grünenberg schlägt vor, die liberalen Gewaltgegner sollen mit den "Mitteln des Rituals" die Auseinandersetzung selbst "erfolgreich" durchführen. Ein eigener Zusammenhalt muß irgendwie gegen diese "Logik der archaischen Gewalt" erlebt und inszeniert werden. Die "liberalen Bürger der medialen Öffentlichkeit" brauchen daher "Opfer" für eine gemeinsinnige, kollektive Gewalt, die jedoch unblutig, maßvoll ist und vor allem niemanden trifft, der sich nicht "provokativ dieser Gefahr ausgesetzt hat". Die Waffe ist das geschriebene oder gesprochene Wort. Als simulierte und virtuelle ist sie der "Konfliktmechanismus einer höheren Kultur".

Doch gerade diese Art der Kommunikation in den öffentlichen Medien ermutigt zu archaischen Handlungsweisen. Das läßt sich daran zeigen, daß nach dem DDR-Zusammenbruch durch das Versprechen einer großen Einheit Deutschland, das alle von den Lasten des deprimierenden Lebens erlösen sollte, viele Gewaltpotentiale entstanden waren, die zündelnd ihren jugendlichen Haß gegen alles Andersartige in der Realität umsetzten. Diese Formen ritueller Gewalt profitieren von der Realität der Medien. Und was die "Opfer" der liberalen Öffentlichkeit betrifft, wo lassen diese sich ausmachen? Sind es wirklich diese sprachlosen, blamierten Agitatoren der Republikanern, Wehrsportführer oder rechte Skinheads, bestenfalls "Vorzeigenazis", die Politiker, Journalisten und Dokumentarfilmer an die Nase herumführen? Oder sind es die "versagenden Politiker", die der Progrome und Brandanschläge an Asylanten und ihre Heime nicht mehr Herr werden? Doch aus Opfer können leicht Märtyrer, aus Märtyrer leicht Helden werden. Das darf nicht vergessen werden.

November 1996

Hans-Jürgen Hansen


Nach oben
Zurück