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Die Handlungstheorie bei Arnold Gehlen


1. Einleitung
2. Ausgangsfrage Mensch und Handlungszusammenhang
3.1. Bewegungen
3.2. Zusammenarbeit Auge und Hand
4. Signale, Symbole, Sprache
5. Entlastung und Lebensfähigkeit
6.1. Denken
6.2. Handlung
6.2.1. Willkürliche Handlungen
6.2.2. Theorie des Wollens

1. Einleitung

Ziel dieser Abhandlung ist es, einen Überblick über das Konzept der Handlung in der Philosophie von Arnold Gehlen zu geben. Es soll also nicht die ganze Philosophie aufs Papier gebracht werden. Auch die eng mit der Handlungstheorie verbundene Sprachtheorie wird nur in ihrer Verwendung und in ihrer Bedeutung zur Handlung nachgegangen werden. Als Grundlage diente mir insbesondere die Einleitung in Arnold Gehlens Hauptwerk "Der Mensch" in der zwölften Auflage. Die Seitenangaben in den Klammern beziehen sich auf diese Ausgabe.

Bevor im Einzelnen auf Gehlens Handlungsbegriffe eingegangen wird, sei vorweg eine kurze Zusammenfassung seiner Lehre gegeben: Arnold Gehlen bezeichnet den Menschen als "Mängelwesen" und schreibt ihm eine Sonderstellung in der Natur zu. Von Natur aus ist der Mensch nur mangelhaft mit Organen und Instinkten ausgestattet. Unfertig und nicht festgestellt ist er aber zugleich ein gerichtetes, stellungnehmendes, verfügendes und tätiges Lebewesen. Der Mensch kann nur aus sich selbst als handelndes Lebewese begriffen werden. Er ist überhaupt nur als Handelnder im Bewältigen und Umschaffen der Natur lebensfähig. Die Natur wird vom Menschen ins Lebensdienliche umgestaltet. Der Mensch wird zu einem sprechenden und handelnden "Kulturwesen".

Im Gegensatz zum Tier, das umweltabhängig und in ein klimatisch, ökologoisch usw. konstantes "Milieu" eingepaßt ist, ist der Mensch weltoffen. Er wird der Fülle und Mannigfaltigkeit einer auf ihn einströmenden Welt ausgesetzt, die erst bewältigt werden muß. Diese Reizüberflutung, dieses Überraschungsfeld muß mit Vorsicht durchgearbeitet und erfahren werden. Der Mensch muß seine Mängelbedingungen tätig in Chancen seiner Lebensfristung durcharbeiten. Der Mensch muß die Wirklichkeit ins ihm Lebensdienliche verändern und umarbeiten, weil es natürliche, ihm angepaßte Lebensbedingungen nicht gibt. Diese sind ihm unerträglich, weil ihm jeglicher natürlicher Schutz und Angriffswaffen fehlen. Seine Nahrungsmittel müssen zum Genuß erst "präpariert" werden. Da ihm auch der Witterungsschutz fehlt, muß er seine nackte Haut mit Kleidung bedecken, muß er sich Unterkunft verschaffen und er muß Feuer erzeugen, um sich wärmen zu können. Ebenso müssen seine enorm lange unterentwickelten Kinder ernährt und großgezogen werden. Der Mensch schafft sich somit eine Art ins Lebensdienliche umgearbeitete "zweite Natur", eine Kulturwelt, die genau an der Stelle steht, die beim Tier "Umwelt" bedeutet.

Die Handlung stellt beim Menschen das Mittelglied zwischen Antrieb und Bedürfnisbefriedigung dar. Weil der Mensch wegen der ihm umgebenden unwirtlichen Natur seinem unmittelbaren Trieb und Bedürfnisverlangen nicht ohne weiteres nachgehen kann, muß er diese aufschieben oder verdrängen. Er kann das, weil er die Fähigkeit besitzt, vorausschauend zu überlegen und zu denken. Und nicht nur dies, durch sein darauf erfolgendem Tätigwerden kann er nicht nur seine äußere Natur, sondern auch sich selbst, seine innere Natur verändern. Dabei findet auch eine Verschiebung seiner Antriebe selbst statt. Es entstehen dadurch neue Bedürfnisse, die aus den unmittelbaren Antrieben der bloßen Lebensfristung jetzt herausgehoben sind.

2. Ausgangsfrage Mensch und Handlungszusammenhang

Den Ausgangspunkt für eine Theorie der Handlung sieht Arnold Gehlen in der Frage, wie sind denn eigentlich die Existenzbedingungen des Menschen beschaffen? Vor welchen Aufgaben steht ein solches Wesen, wenn es sein Leben erhalten, sein Dasein, sein Leben erhalten muß? (S. 16) Weiter stellt Gehlen fest, daß der Mensch ja im Unterschied zum Tier sein Leben nicht lebt, sondern sein Leben führt. (S. 17) Die Intelligenz hilft ihm dabei, die jedoch kein unabhängiges Dasein von der körperlichen oder der natürlichen Grundlage des Menschen führt.

Erst die Analyse der Handlungsvollzüge des Menschen kann es ermöglichen, den Zu sammenhang von Leib und Seele herzustellen. Einerseits ist unser Denken in der Lage, von der Wirklichkeit zu abstrahieren, andererseits aber kann der Mensch die "Wirklichkeit nicht einfach wegabstrahieren. Der Zusammenhang von Leib und Seele" wird mit jeder gewollten Armbewegung vollzogen, ist also Tatsache und Erfahrung zugleich. Denken, Vorstellen, Phantasieren ruhen mithin auf einem breiten Unterbau "sensomotorischer" Funktionen, welche über Hand, Auge und Sprache ablaufen. (S. 19)

Gehlen lehnt es ab, den Menschen vom Tier nur graduell unterschieden anzunehmen. Ebenso ihn als "Geist", eines Art gegennatürlichen Wesenzuges zu bestimmen. Seiner Ansicht nach muß die Anthropologie an einem strukturellen Sondergesetz festhalten, welches allen Menschen eigen ist und ihn als handelndes Wesen gegenüber dem Tier auszeichnet. (S. 28) Gehlen unterscheidet zwei Arten, niedere und höhere Funktionen im menschlichen Handeln. Die niederen erfüllen leibliche Funktionen wie Essen, Trinken, Schlafen usw. - wie in erster Linie der der Mensch überhaupt seinen eigenen Körper gebraucht, um äußerlich auf die ihn umgebende Natur einwirken zu können. Höhere Funktionen wie Sprache, Phantasie und Denken begleiten seine körperlichen Handlungen und zielen schon in Richtung auf gesellschaftliches Handeln.

Der Mensch ist weltoffen, also nicht an eine bestimmte regionale Umwelt eingepaßt. (S. 31) Der Mensch ist nicht "festgestellt", er ist ein stellungnehmendes Lebewesen. Die Akte des stellungnehmenden Menschen nach außen hin nennen wir Handlungen. Und weil der Mensch sich selbst Aufgabe (Teil der Welt) ist, nimmt er auch zu sich selbst Stellung, "macht sich zu etwas". Da er "unfertig" ist, gehören Selbstzucht, Erziehung und Züchtung als "In Form Kommen" und "In Form Bleiben" zu den Bedingungen seiner Existenz, seines Überlebens. (S. 32)

Wenn der Mensch diese lebensnotwendige Aufgabe verpaßt, so ist er gefährdet, er ist ein "riskiertes" Wesen, das jederzeit "verunglücken" kann. Der Mensch ist daher vorhersehend, angewiesen auf das Entfernte, auf das Nichtgegenwärtige in Zeit und Raum. Er lebt für die Zukunft, nicht für die Gegenwart. (S. 32) Schiller und Herder zitierend, führt Gehlen weiter aus, daß allein der Mensch das Vorrecht hat, durch seinen Willen in den Ring der Notwendigkeit zu greifen, der für bloße Naturwesen unzerreißbar ist. Die Erfüllung seiner Bestimmung wird dem Menschen selber überlassen. Der Akt, der dahinführt, heißt Handlung. Der Mensch wird sich selbst Zweck und Ziel der Bearbeitung. (S. 32 f.)

3.1. Bewegungen

Die Tiere unterscheiden sich in ihren Bewegungen vom Menschen dadurch, daß "diese ihre Bewegungskala sehr schnell beherrschen, Stunden oder Tage, und sind dann abgeschlossen. Die Bewegungen der Tiere sind Instinktbewegungen, die nach einem angeborenen Automatismus ablaufen und abhängig sind von endogenen Reizerzeugungsprozessen. (S. 24) Die Instinktbewegungen werden durch Reize wie z. B. Hunger oder Durst oder bestimmtes Verhalten von Lebewesen in der Umgebung ausgelöst. Diese Auslöser werden Signale genannt. Es können optische, hörbare, aber auch Geruchssignale sein. Tiere sind zwar durchaus lernfähig, verwerten Erfolgserfahrungen nur im bedingten Reflex. Denn alles das, was das Tier gelernt hat, kann nur in Erscheinung treten, wenn die definitive Situation eintritt. (S. 28 f.)

Beim Menschen sind die Instinkte jedoch reduziert. Er ist ein instinktreduziertes, unfertiges Lebewesen. Instinktives und intelligentes Verhalten schließen sich anscheinend genauso aus wie es kein Stufenverhältnis beim intelligenten und instinktiven Verhalten in der Entwicklung vom Tier zum Menschen geben kann. (S. 26 f.)

Gerade die Entlastung des menschlichen Verhaltens, z. B. seine denkende und praktische Tätigkeit, von instinktiven Antrieben, ermöglicht es dem Menschen zu lernen, ohne daß in der Anwendung des Erlernten für ihn eine bestimmte biologisch ausgezeichnete Situation vorliegen muß. Somit kann die freie, z. B. experimentierende Tätigkeit vom Druck biologischer Bedürfnisse abgelöst und unabhängig von wechselnden Situationen durchgehalten oder durchgeführt werden. (S. 29 f.)

Ähnliches stellen wir fest, wenn wir die menschlichen Organe wie Hände, Zähne, Körperschutz usw. betrachten. Sie erscheinen uns höchst unvollkommen. Ein Vergleich mit der Tierwelt zeigt, daß deren Organe wesentlich ausgeprägter, spezialisierter, einfach fertiger sind und in der Natur ihre ganz bestimmten und festgelegten Funktionen erfülllen.

Die menschlichen Organe hingegen sind unfertig. Heutzutage kann der Mensch seine Hände nicht einfach "bloß" gebrauchen. Er benötigt außerdem Werkzeuge. Die Nahrung kann er nur zu sich nehmen, wenn diese entsprechend zubereitet ist. Und der Mensch benötigt zusätzliche Kleidung, um den unterschiedlichen Witterungsbedingungen standhalten zu können.

Seine mangelhaft ausgestatteten körperlichen Organe erlauben dem Menschen allerdings eine enorme Bewegungsvielfalt. Die menschlichen Bewegungen haben eine unvorstellbare Mannigfaltigkeit und einen großen Reichtum an Kombinationsmöglichkeiten. Man denke nur an die Fülle der Bewegungsformen in nur einem einzelnen Handwerk. (S. 41 f.) Die Bewegungen sind beim Menschen die Mittel, um eigentätig die ringsum sichtbaren Dinge nach und nach in Erfahrung zu bringen. Dinge oder Gegenstände werden gesehen, betastet, bewegt und behandelt in kommunikativen Umgangsbewegungen. Die umgebene Welt wird quasi "umgearbeitet" in Richtung auf Verfügbarkeit und Erledigung. (S. 41)

Der Mensch erwirbt ein Handlungskönnen aus seiner Unfertigkeit heraus, in müh samen, selbsterlebten Prozessen, um schließlich der Welt gewachsen zu sein. Er legt sich einen reichen Vorrat variablen Könnens an und setzt es dort ein, wo sein Auge eine aussichtsreiche Möglichkeit sieht. (S. 46 f.) Damit erwirbt er gleichzeitig ein Handlungskönnen, das der Mannigfaltigkeit der Welt gewachsen ist. Unter Kontrollen, überwundenen Hemmungen und errungenen Führungen wird ihm jetzt ein reicher Vorrat variablen Könnens verfügbar.

3.2. Zusammenarbeit Auge und Hand

Wenn wir z. B. in diesem Augenblick die Augen aufschlagen, dann nehmen wir eine Welt wahr, eine geordnete Welt, die allerdings schon Resultat menschlicher Eigentätigkeit ist. Wir sehen um uns herum ein großes Feld von Erfahrungsandeutungen, welche uns gleichzeitig die Beschaffenheit und Verwendbarkeit der Gegenstände symbolisieren. (S. 39) Wir können das jedoch nicht als so selbstverständlich voraussetzen. Irgendwie und irgendwann einmal müssen wir diese Fähigkeit erworben haben. Wir müssen also früh ansetzen und uns überlegen, auf wel che Weise und wie schon im frühesten kindlichen Alter der Mensch mit der auf ihn einströmenden Eindrucksüberflutung fertig wird.

Die Bewältigung der Eindrucksfülle selbst geschieht durch Entlastung. D. h. die Welt wird in bedürfnisfreier Kommunikation, in Bewegungen und Aktionen (Hand lungen) durchgegangen. Dieser Prozeß füllt den größten Teil des kindlichen Alters aus. Die Orientierung innerhalb der Reizüberflutung gewinnt der Mensch dadurch, daß er gleichzeitig die Dinge in die Hand bekommt, sie aber auch wieder dahin stellen kann, also erledigt. Die offene Fülle der Welt wird erfahren, erkannt und abgestellt. Die Eindrücke werden geordnet, werden faßlich gemacht, werden in "die Hand bekommen". Die irrationelle Überraschungsfülle der Eindrücke wird reduziert auf eine Reihe leicht übersehbarer Dinge oder Zentren.

Der viel zu früh in die Welt gesetzte Mensch muß sich also erstmal in ihr so orientieren, daß diese verfügbar wird und ihm in die Hände fällt. So schafft er um sich herum eine übersehbare, andeutungsreiche und dahingestellt verfügbare Welt. Ohne dem unmittelbaren Triebdruck ausgesetzt zu sein, werden "spielend" die Dinge in Erfahrung gezogen, kommunikativ aufgeschlossen und abgestellt und dabei unvermerkt mit einer hochgradigen Symbolik angereichert, bis das Auge endlich eine geordnete, neutralisierte Welt beherrscht.

In diesem Prozeß wirken Bewegungen jeder Art, Hände und Sinne, besonders das Auge zusammen. In kommunikativen Umgangsbewegungen erfolgt eine enge Zusammenarbeit von Hand und Auge. Das Auge wird von Gehlen als müheloser Sinn bezeichnet, es folgt den Hand und Körperbewegungen und überblickt sie. Als führendes Organ kann allein das Auge eine Welt ausgiebiger Symbole übersehen, die uns sowohl die Gebrauchswerte und die Umgangseigenschaften anzeigen, die vorher mühsam eigentätig erfahren werden mußten, als auch die dahingestellten, erledigten und jederzeit verfügbaren Sachverhalte dieser Welt.

Der Mensch kann jetzt "stillgestellt" um sich blicken und einen großen Umkreis optischer und symbolischer Andeutungen von verfügbaren Sacherfolgen und Umständen übersehen. Durch seine Eigentätigkeit kann der Mensch sich zurückziehen, Distanz schaffen. (S. 41) Erst jetzt können in einem weiteren Schritt die Hand- und Körperbewegungen sich von der unmittelbaren Erfahrungstätigkeit zurückziehen und werden nunmehr für andere Aufgaben wie z. B. für geplante Arbeit frei. (S. 40)

4. Signale, Symbole, Sprache

Aus dem Vorhergehenden resultiert folgendes: Die uns gegebene Wahrnehmungswelt symbolisiert uns die Beschaffenheit und Verwendbarkeit der Gegenstände. Übersehene Dinge deuten eine mögliche Verfügbarkeit an. Die Symbole deuten den Gebrauchswert und die Umgangseigenschaften der Dinge an. (S. 40)

"Wir müssen sehen, und das liegt nahe, daß wir im Chaos der Reizüberflutung zunächst gar nichts erkennen können. Erst die allmähliche Bewältigung desselben durch Umgangs- und Erfahrungsbewegungen erlaubt zusammenfassende Symbole, an denen man ansetzen kann, das man Erkenntnis nennt, wo Sprache einsetzt und was im Denken ihren Abschluß findet. An Sprache ist eine präzise Erinnerung und eine kombinierende Voraussicht gebunden. Ohne dieses kann es keine geplante, gerichtete Tätigkeit, keine Mitteilung und Verständigung geben. (S. 51)

Die Bedingung für Sprache ist die Ablösbarkeit des Menschen vom Kontext der jeweiligen Situation. Das Zeichen für die Sprache, das Symbol, soll auf ein Nichtgegebenes, auf ein aus dem Kontext nichts Erschließbares hinweisen. (S. 30) Symbole haben Signalen gegenüber eine erweiternde Funktion. Symbole beinhalten für uns das, was die Signale für die Tierwelt sind. Symbole erhalten insofern Bedeutung und Stellenwert im sozialen Verkehr, als zwar unterschiedliche oder bestimmte, aber wiederkehrende Situationen damit bezeichnet werden. Auch ein Signal wie z. B. das Eisenbahnsignal kann dadurch zum Symbol werden, weil es eine auf zwei mögliche Texte verengte optische Kurzmitteilung ist. Es kann durch bedingte Reflexe nicht mehr erklärt werden, weil jene Eindeutigkeit fehlt, die eine instinktmäßige und nachfolgende Reaktion ablaufen ließe. (S. 29)

Symbole lösen im Gegensatz zum Tier weiterhin menschliches Verhalten vom Kontext der jeweiligen aktuellen Situation ab. Der wird damit also von instinktiven Antrieben entlastet. Symbole werden im wesentlich im kommunikativem Umgang miteinander entwickelt. In der hochkonzentrierten Symbolik, die die Voraussetzung für Sprache ist, stecken lange Übungserfahrungen, Umgangsvollzüge und Lernleistungen.

5. Entlastung und Lebensfähigkeit

Das Entlastungsprinzip bildet den Schlüssel zum Verständnis des Strukturgesetzes beim Aufbau der gesamten menschlichen Leistungen. (S. 36) Die Mängel der menschlichen Konstitution stellen für seine Lebensfähigkeit eine höchste Belastung dar. Die Akte bzw. die Handlungen der Menschen sind daher immer von zwei Seiten aus zu betrachten.

Entlastung dient einmal als produktiver Akt dazu, die Mängelbelastung erfolgreich bewältigen zu können. Weil die natürlichen und unangepaßten Lebensbedingungen dem Menschen unerträglich ist, ist er gezwungen, seine Wirklichkeit um ihn herum ins ihm Lebensdienliche zu verändern. Zum anderen gewinnt der Mensch aus solchen Handlungen ganz neuartige Mittel der Lebensführung. Er holt ein sehr komplizierte Hierarchie von Leistungen aus sich selbst heraus und stellt eine Aufbauordnung des Könnens in sich selbst fest. In der Auseinandersetzung mit der Welt werden diese Fähigkeiten erst eigentätig entwickelt mit dem Ergebnis, daß sich ein kompliziertes und umfangreiches Führungs und Unterordnungssystem von Leistungen herausgebildet hat. Die wirkliche Lebensfähigkeit des Menschen wird erst nach sehr langer Zeit erreicht. (S. 37)

Hinzugefügt und nicht vergessen werden darf, daß dem Menschen in der Bewältigung der ihm unangepaßten Lebensbedingungen auch Chancen geboten werden. Denn der Mensch findet unter allen möglichen Bedingungen auch solche Chancen, die ihm eine Hilfe im Lebenskampf geben können, z. B. ein Werkzeug oder eine Erfahrung. (S. 39)

6.1. Denken

Das Denken ist ein aktives Verhalten, das seine Gegenstände real und praktisch nicht verändert. Das Denken ist ein theoretisches Verhalten zu den Gegenständen. Das Denken ist eine empfindbare, nur in sich selbst empfindliche Kommunikation. Denken bleibt zwar ein theoretisches Verhalten zu den Dingen, kann aber jederzeit in praktisches Verhalten, also in Handlung übergehen. Zwischen Wahrnehmung und tätiger Behandlung des Wahrgenommenen tritt das Denken. Durch das Denken wird eine Zwischenphase nicht verändernden Verkehrs mit den Dingen (Planung) gelegt. (S. 49)

6.2. Handlung

Der Schlüssel zum Verständnis der menschlichen Antriebsstruktur ist die Handlung. Sie schiebt sich als sozialer Zusammenhang zwischen den Bedürfnissen des Einzelnen und deren Erfüllungen. Es ist ein ganzes System der Weltorientierung und der Handlung, also jene Zwischenwelt bewußter Praxis und Sacherfahrung, die über Hand, Auge, Tastsinn und Sprache verläuft. (S. 53)

Die Handlungen sind ein System von Verhaltensweisen, die vom Instinktdruck entlastet sind. Ein System, in das Wahrnehmung, Sprache, Denken und variable nicht angeborene, sondern erlernbare Handlungsfiguren auf Variationen der Außendinge, des Verhaltens anderer Menschen und die, die aufeinander reagieren können.

Dieser "Handlungskreis" entwickelt also seine Motive und Ziele, da entlastet, aus sich selbst heraus in der Zusammenarbeit von Handlung, Wahrnehmung, Denken usw. an einem zu verändernden Sachverhalt. Das erfordert aber die Hemmbarkeit der Bedürfnisse, die nun eingeklammert oder aufgeschoben werden müssen.

6.2.1. Willkürliche Handlungen

Alle führende Organe des Menschen wie die Hand, das Auge und die Sprache sind nicht nur willkürlich, sondern auch voneinander unabhängig beweglich, so daß diese sich miteinander gegenseitig auseinanderzusetzen haben. Diese Organe ermüden deshalb auch schnell und bedürfen daher Ruhepausen. Die inneren Organe dagegen wie die der Ernährung, des Kreislaufs usw. arbeiten unwillkürlich, sind also unabhängig vom Willen. Sie sind außerdem unmittelbar voneinander gegenseitig abhängig. (S. 138)

Daß die vorgenannten äußeren Organe unabhängig voneinander einsetzbar sind, ist ein wichtiger Aspekt bei der richtigen und erst mühsam zu erlernenden Zusammenarbeit von Hand und Auge. Die Bewegungen dieser Organe nennen wir dann willkürlich, wenn sie aufgrund umgehender Erfahrung ihren eigenen Erfahrungsvorgriff enthält. Die Bewegung muß gekonnt sein und ist ausgelesen aus einem nicht vollzogenen Bereich ursprünglich gleich möglicher Chancen. (S. 139)

Die Bewegungen sind gleichgültig gegenüber dem "Physischen" oder "Psychischen". Entscheidend ist folgendes: Der Mensch muß seine Bewegungen mitsamt ihren Erfolgen wahrnehmen und beide miteinander assozieren. Indem dieser sich den künftigen Erfolg vorstellt, leistet sein Wille die entsprechende Bewegung dazu. (S. 139)

Bewegungen werden unter zwei Bedingungen zu Willenshandlungen: Zum einen wenn Bewegungen gehemmt werden und sie daher versuchen müssen, sich gegen Widerstände durchzusetzen. Zum anderen wenn Zufallserfolge aufgegriffen werden und diese Bewegungen daher jetzt gewollt (intendiert), gerichtet und in ausgewerteter Form wiederholt werden.

Wir können beides auch bei Tieren beobachten. Daher gebrauchen wir den Begriff "Willen" auch dann, wenn Instinkte mit im Spiel sind. Da die Grenze zwischen willkürlichem und getriebenem Verhalten nicht scharf gezogen werden kann, sprechen wir auch dann von Willenshandlungen, wenn der Erfolg gesteuert wird von einem vorschwebendem Motiv.

Der fließende Übergang erklärt sich auch daraus, daß aufeinanderfolgend ein und dieselbe Handlung zwei unterschiedliche Bedeutungen haben kann. Das erstemal war es ja eine sich innegewordene Zufallshandlung, mit der z. B. eine angenehme Erinnerung verbunden ist. In der Wiederholung war sie bereits eine auf Erwartung eingesetzte Handlung, die jetzt ein "Motiv" besitzt und somit eine Willenshandlung darstellt. (S. 146)

Alle motorischen, geistigen und emotionellen Vollzüge unterliegen Willensleistungen, wenn diese unabhängig vom Gesamterhalt einer gegebenen Situation intendiert werden. Die Richtung des Einsatzes einer Willenshandlung muß also vom Erfolg gesteuert, antizipiert oder vorentworfen sein. Gegenüber den Gesamtinhalten einer gegebenen Reizlage oder Situation und auf ein isoliertes verselbständigtes Motiv hin erfolgt die Leistung unabhängig und neutral.

Der solcherart Wille genannte Antrieb findet die Erfüllung in den positiven Reaktionen der wirklichen Dinge auf die Intentionen seines Handelns selbst. Im "Handlungskreis" werden daher Motive aus dem Sachumgang selber entwickelt, so daß sich Sacherfolge und Serien von Handlungen gegenseitig bestätigen, ohne daß diese Erfolge nun auch begehrte Erfolge sein müssen. (S. 148 und 179)

6.2.2. Theorie des Wollens

Gehlen schließt aber ein besonderes Vermögen des Willens aus, denn im Bereich des Unwillkürlichen (Herzschlag, Reflexbewegungen usw.) gibt es keine Willensvollzüge. Wir reden in erster Annäherung von willkürlichen, gewollten Bewegungen der Arme und Glieder, vom gewollten Denken, vom festgehaltenen und bewußten Begehren. Der Bereich des Willens erstreckt sich über den ganzen Menschen, sei es im Physischen, im Motorischen, im Trieb und Affektleben, im Denken usw. Wo man auch hinsieht, überall sind gewollte Vollzüge und Willenserlebnisse festzustellen. (S. 362)

In einem weiteren Schritt setzt Gehlen wie Aristoteles Willen mit "überlegtes Begehren" gleich. Das griechische Wort dafür ist "Boulesis", welches ja gemeinhin mit Wille übersetzt wird. Ein anderes Wort im Griechischen ist "Boulema", das "Gewollte" oder "Plan". Beiden Wörtern liegt die Bedeutung des "Beratschlagens", des "Erwägens" oder des "Überlegens" zugrunde. Eine Substanz "Wille" gibt es in dieser Bedeutung nicht. Aristoteles hat dabei jenes Verhältnis im Auge - Gehlen zieht diesmal auch Kant hinzu (Krit. der Urt. § 83) - daß erst die "Kultur der Zucht (Disziplin)" die Vernunft imstandesetzen kann, die "Leitfäden der Triebe anzuziehen oder nachzulassen, zu verlängern oder zu verkürzen". (S. 363)

Mit dieser Formulierung ist jener Triebaufschub gemeint, der es ermöglicht, mit dem Gedanken an den "Hunger von morgen" erstaunliche Kulturleistungen zuwegegebracht werden. Mit Wollen ist also das geführte, phantasiemäßig vorentworfene Vollziehen von "Bewegungen" gemeint. Willensakte sind dann alle Funktionen der Menschen, die sich zur Welt, zu den Gegenständen verhalten, geführt, eingesetzt werden und die sich damit auch zu sich selbst verhalten können oder gegenseitig festgestellt werden müssen. Willensakte sind typische Funktionen des menschlichen Bewegungs und Antriebslebens, des Sprechens und des Denkens. (S. 365) Das besondere Vermögen "Wille" ist nur ein anderes Wort für den Menschen im Menschen. (S. 364)

Wille ist also in der engeren Bedeutung die mühelose Verfügung der Antriebskraft in vorgezeichneten und festliegenden Bahnen, ist also eigentlich "Willenskraft". Es liegt nahe, zwischen einem schwachen und einem starken Willen zu unterscheiden. ( Für Gehlen ist in Anlehnung an Nitzsche "der Wille das, was die Begierden als Herr behandelt, ihnen Weg und Maß weist". (S. 367)

Der Wille im engeren Sinne muß daher im Zusammenhang mit dem Antriebsüberschuß und dem Aufschub der Bedürfnisse erst hochgezüchtet werden. Der Wille ist die freigewordene und ihrer Richtung nach verströmende Kraft des Überschusses. Es ist in Anlehnung an Aristoteles die Gewöhnung, die Haltung, die das Ethos formiert. Die so genannte Willenshandlung fließt in dieser Weise in die Handlung üdes Menschen ein. (S. 367)

Die Willenskraft, so Gehlen, ist durchaus ein "Resultat der Zucht, der Herrschaftsgeschichte der Leistungen und Antriebe im Menschen. Sie setzt voraus, daß bestimmte Dauerinteressen ausgebildet und Bedürfnis geworden sind, daß die völlige Konzentrierung des Bewußtseins auf die bestehenden Aufgaben gelungen ist, und daß eine stetige Disziplin der Tat in eindeutigen Tätigkeiten zustandegekommen ist. Dann strömt der gesamte Antriebsüberschuß des Menschen in diese Bahnen ein, und man weiß, welche außerordentlichen Leistungen solcher Willenskraft verdankt werden: erst dann ist der Mensch eigentlich fähig, von dem 'Jetzt' der Umstände ganz abzusehen und die Energie seines Handelns und Vorstellens in ausschließende und künftige Ziele zu werfen. Das bloße Herumexperimentieren und Entlanggleiten am Gegenwärtigen ist nicht die Aufgabe des Menschen, sondern das Umschaffen der Welt von der Zukunft her". (S. 366)

HANS JÜRGEN HANSEN

Hausarbeit für das Fach Philosophie, erstellt im WS 1980/81


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