Regionalismus und Weltgesellschaft


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Die Seiten von der Nordseeküste


Nordfriesland

Für die Friesen in Nordfriesland, die sich auf eine lange Freiheits- und Rechtstradition berufen, war es im Verlauf ihrer Geschichte schwer, sich als eigenständiges Volk zu betrachten oder sich als nationale Minderheit zu empfinden. [ 1 ] Sie konnten bis heute nur mühsam ihre eigene Kultur, ihre eigene Sprache, überhaupt ihre eigene Identität bewahren. Sind die Friesen ein eigenständiges Volk oder sind sie ein Stamm unter vielen deutschen Stämmen? [ 2 ] Die "Wahrheit" dürfte wohl, wie gesagt wird, eher in der Mitte liegen. Fest steht, daß die friesische Kultur einer wechselvollen Geschichte unterlag und in hohem Maße von äußeren Einflüssen abhängig war. Heute (1984) gibt es in Nordfriesland etwa 10.000 Menschen, die die friesische Sprache entweder sprechen oder verstehen können.

Nordfriesland ist eine peripher gelegene Küsten- und Grenzlandschaft am nördlichen Ende der Bundesrepublik Deutschland. Die Region weist eine vielfältige und heterogene Küsten-, Landschafts- und Bevölkerungsstruktur auf. Ohne die Wattflächen umfaßt das Gebiet in seinen Kreisgrenzen etwa 2041,15 qkm. Die Inseln und Halligen sind etwa 298,35 qkm groß. Das zwischen den Inseln und dem Festland liegende Watt ist mit ca. 1800 qkm bemessen. Da Nordfriesland größtenteils Agrargebiet ist, beträgt die landwirtschaftliche Fläche insgesamt 1572,36 qkm, davon Grünland 974,09 qkm, Ackerland 593,19 qkm und Wald 63,72 qkm. Nach dem Stand vom 31. März 1982 lebten im Kreis Nordfriesland 161.466 Einwohner, das sind 79,1 Einwohner pro qkm. [ 3 ]

Der Kreis Nordfriesland entstand durch eine Gebietsreform im Jahre 1970. In diesem Jahr wurden die Kreise Eiderstedt, Husum und Südtondern zusammengelegt. Vor dieser Reform war der Name "Nordfriesland" ein geographischer Begriff, welcher das Wohn- und Sprachgebiet der wahrscheinlich zwischen 700 und 1200 eingewanderten oder kolonisierten Friesen bezeichnete. Wie der Volksname "Friese" entstanden ist, darüber können nur Vermutungen angestellt werden. Während eine ältere Lesart annimmt, daß "der Friese" mit "der Freie" übersetzt wird, glaubt eine jüngere Ansicht, daß das Wort "Friese" von dem Wort "Vries" hergeleitet ist. Im Hochdeutschen bedeutet es "Rahmen", "Peripherie" usw. Friesen sind also die am Vries, am Rande, an der Küste des Festlandes wohnende Bevölkerung. [ 4 ]

Friesen werden einerseits als äußerlich ruhig, steif und manchmal verschlossen, andererseits als bald tief bewegt, sentimental und rührselig geschildert. Es werden ihnen gleichermaßen die Tatkraft freier Bauern und Schiffern als auch die Passivität von Märtyrern zugeschrieben. Als scheinbar wesensmäßige Gegensätze, sind diese Zuschreibungen dennoch keineswegs ausgesprochen negativ. Ob sie tatsächlich das Wesen der Friesen treffen, mag dahingestellt sein. Es ist genauso leerformelhaft, vom typischen "Amerikaner" oder vom "Franzosen" zu sprechen. Es sei denn, es bezieht sich auf einen bestimmten Sprachträger oder als einen Inhaber einer bestimmten Staatsbürgerschaft.

Weil Hermann Lübbe so etwas wie eine friesische Bewegung in Nordfriesland vermißt, die er als nichtexistent ansieht, hält er die Anstrengungen der Friesen, ihre Herkunftsprägung zu behaupten und zukunftsfähig zu halten, mehr für etwas Allgemeines, weniger für eine spezielle friesische Besonderheit. Er begründet das mit der wachsenden kulturellen und politischen Aktualität von regionalistischen Bewegungen in Europa und stellt dabei ein allgemeines Interesse an den Besonderheiten herkunftsgeprägter kultureller Lebenswelten fest. Dabei fragt sich Lübbe allerdings, warum gerade dieses Interesse zunimmt bei der Modernität des sozialen und kulturellen Lebens, anstatt sich im allgemeinen Modernisierungsprozeß aufzulösen. [ 5 ]

Wolfram Zitscher versucht dieses Festhalten am Besonderen wie folgt zu erklären: "Dieses Bewußtsein von der Prägung des Menschen vor allem im Kindesalter durch seine - vor allem - kulturelle Umwelt, das heißt, durch Zeugnisse aus vergangenen Epochen, die bis vor wenigen Jahrzehnten zum unangefochtenen Bestand unseres Lebens gehörten, ist gewachsen. Zugleich aber mit der zunehmenden Zerstörung dieser Umwelt wird in jüngster Zeit eine Entwicklung, bis vor kurzem kaum bemerkbar, wirksam, die in das allgemeine Anwachsen der Sorgen um die Grundlagen dessen einfließt, was wir als unsere Individualität, unsere Besonderheit als Einzelmensch, kurz als 'Menschenwürde' zu bezeichnen versuchen." [ 6 ]

Wie weit allerdings die tatsächlich empirisch feststellbare Unterdrückung von ethnischen und sprachlichen Minderheiten der Regionalbewegungen durch "zwanghafte Selbstüberhöhung" kompensiert werden mag, wie weit sie auf rechtfertigungsbedürftige Weise etwas "Besonderes", etwas "Anderes" sein möchten [ 7 ], ist nicht das eigentliche Problem. Ausschlaggebender ist wohl eher der Verlust der persönlichen Identität, die auch durch die viel beschworene nationale kollektive Identität nicht mehr zurückzuholen ist. Auf eine solche können überdies die Deutschen, durch ihre arrogante Selbstüberschätzung ihres Deutschtums, sich spätestens mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr berufen. Ist es da ein Wunder, daß viele als Ersatz auf kleinräumige und überschaubare Welten zurückgreifen wollen? Warum sollten daher die Nordfriesen sich nicht wie überall um eine eigenständige friesische Identität bemühen?

In Nordfriesland ist Identitätsbildung in hohem Maße immer mit der Landschaft verbunden. Wolfgang Riedel, der mit folgenden Worten zwar weniger die friesische Kultur, sondern eher den kultivierten und menschlichen Eingriff in die Naturlandschaft meint, bringt diesen Tatbestand dennoch auf den Punkt: "Landschaftsbeschreibung heute ist immer auch Schilderung von Landschaftszerstörung. Landschaftswandel durch natürliche Vorgänge, allmählichen Kulturlandschaftswandel, gelegentlich katastrophenartig beschleunigt - das hat es seit Jahrtausenden gegeben. Der Landschaftswandel dieser Tage hat ein Maß an Wachstum und Schnelligkeit erreicht, das unerhört ist und unsere Erfahrungen übersteigt. Sichtbar und - diese Wirkungen sind oft viel gefährlicher - unsichtbar geschehen Wandlungen um uns herum, bahnen sich Höhepunkte und Schlußpunkte der Landschaftsentwicklung an. Waren bedeutende Veränderungen in Landschaftsstruktur und Landschaftsbild früher mehr oder weniger regional begrenzt, so haben Veränderungen und Schädigungen heute ein globales Maß erreicht. Neben die chemische Vergiftung der Umwelt ist die biologische Verarmung (Artentod) mit nachfolgender Instabilität der Ökosysteme getreten. Es gibt keine heiligen Inseln mehr, auch nicht mehr auf Borneo, auch nicht mehr in Ellhöft an der deutsch-dänischen Grenze." [ 8 ]

Im Landschaftswandel Nordfrieslands machen sich die Veränderungen seit Beginn der Industrialisierung Deutschlands vor allem in den drei Faktoren Landwirtschaft, Küstenschutz und Fremdenverkehr bemerkbar. Doch noch immer geht von diesem Küstenstrich mit seinen Inseln, Halligen, Marschen, Deichen, dem Watt und den reetgedeckten Bauernhäusern der Ruf einer reizvollen und attraktiven Landschaft voraus, die viele Touristen, Fremde und manche Schöne und Reiche anlockt. Umweltschäden machen sich jedoch auch hier bemerkbar. Vor allem das Watt ist durch neue Eindeichungen, durch Meeresverschmutzung, durch einen möglichen Öltankerunfall vor der Nordseeküste, die Inseln und das Festland durch intensiv betriebene Landwirtschaft, durch Bebauung in Fremdenverkehrsgebieten usw. bedroht.

Die einstigen Freiheits- und Rechtstraditionen der Friesen sind durch die heutigen modernen demokratischen Rechts-, Politik , Wirtschafts- und sonstigen Lebensformen inzwischen weitgehend außer Kraft gesetzt oder in ihnen integriert worden. Doch gewisse Bestandteile hielten sich hartnäckig bis in unsere heutige Zeit. Auch ein in der Vergangenheit nie angestrebtes eigenständiges und autonomes Nordfriesland ist angesichts der weltweiten allgemeinen und nivellierenden Einflüsse nur noch als unrealistische Utopie zu betrachten. Den Bewohnern Nordfrieslands ist es jedoch unbenommen, sich zu ihren alten friesischen Traditionen zu bekennen. Dazu sollte neben dem bewußten Festhalten an der friesischen Sprache vor allem eine kritische Auseinandersetzung mit der friesischen, dänischen und deutschen Geschichte gehören. Überlieferte Elemente der friesischen Kultur - Bauen, Wohnen, Arbeiten, Feste usw. - sollten behutsam und kritisch auf Erhaltenswertes überprüft und gegebenenfalls durchaus als bessere Lebensformen beibehalten werden.

Anmerkungen

[ 1 ]
Vgl. Wilfried Lagler, Zwischen Kieler und Bonner Erklärung. Zur Stellung der Nordfriesen im schleswig-holsteinischen Minderheitenrecht, in: Nordfriesisches Jahrbuch, Neue Folge, Bd. 18/19, S. 47 ff.

[ 2 ]
Dieser Streit spiegelt sich auch in den friesischen Vereinen in Nordfriesland wider. Neben dem neutralen und von allen friesischen Vereinen unterstützten "Nordfriisk Instituut" in Bredstedt sind es zwei größere Vereine, die sich um die Belange aller Nordfriesen kümmern. In der Stellungnahme zur Eigenständigkeit der friesischen Kultur nehmen sie konträre Positionen ein. Die eng mit der dänischen Minderheit zusammenarbeitende "Foriining for nationale Friiske" versteht die Friesen als nationale Minderheit mit einer eigenständigen Sprache und Kultur. Der "Nordfriesische Verein für Heimatliebe und Heimatkunde" betont dagegen ausdrückliche eine Zugehörigkeit der Friesen zur deutschen Kulturgemeinschaft und versteht sich als eine der deutschen Heimatvereine.

[ 3 ]
Angaben erfolgten nach dem offiziellen Zahlenspiegel 1983, der von Kreis Nordfriesland herausgegeben wird.

[ 4 ]
Vgl. Harald Thomsen, Das Friesentum Dithmarschens, in einem undatierten Zeitungsausschnitt vor 1945 (vorhanden im Archiv des Nissenhauses in Husum)

[ 5 ]
Vgl. Hermann Lübbe, S. 9 f.

[ 6 ]
Wolfram Zitscher, Heimat - inhaltsanalytische Reflexionen, in: Wolfgang Riedel (Hrsg.), Heimatbewußtsein, Husum 1981, S. 48

[ 7 ]
Vgl. Harm-Peer Zimmermann, S. 18, in einer Antwort auf den Beitrag von Hermann Lübbe

[ 8 ]
Wolfgang Riedel, Heimat im Kräftefeld von Umwelt und Innenwelt, in: ders. (Hrsg.), Heimatbewußtsein, Husum 1981, S. 84


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Inhalt der Diplomarbeit

Einleitung
Neueinleitung
Modernisierung
Traditionelle Gesellschaften
Moderne Gesellschaften
Integration und Weltgesellschaft
Das Weltwirtschaftssystem
Das internationale politische System
Differenzierung und Regionalismus
Regionalismus und soziale Bewegungen
Zur Entstehung von Regionalkulturen
Europäische Regionalbewegungen
Regionale Wirtschaftsentwicklung
Alternative Regionalpolitik
Nordfriesland
Zur Geschichte Nordfrieslands
Zur Sprache Nordfrieslands
Schlußbemerkungen
Literaturverzeichnis

Anhänge

Der Nationalismus
Staat, bürgerliche Gesellschaft und Rätedemokratie


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