Regionalismus und Weltgesellschaft


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Differenzierung und Regionalismus

Mit den integrationsfördernden Auswirkungen der Modernisierungsprozesse geht komplementär eine "Differenzierung" einher, die in der heutigen Gesellschaft eine ungeheure Vielfältigkeit menschlichen Tuns und Handelns hervorgerufen hat. Differenzierung soll hier heißen, daß seit etwa zwei Jahrhunderten mit fortschreitender gesellschaftlicher Entwicklung vielfältige individualisierende Prozesse ausgelöst wurden, die das bestehende alte Sozialgefüge zugleich auflösten und umbildeten. Diese Umstrukturierungen, die aus dem "System der Gemeinschaften" eine alle Menschen isolierende "Gesellschaft" hervorgebrachten, können, im negativen Sinne, als Desintegrationserscheinungen gedeutet werden. [ 1 ]

Der Prozeß der Ausdifferenzierung ursprünglich segmentärer Gesellschaften betrifft sowohl die Beziehungen der sich neu konstituierenden Teilsysteme untereinander als auch die zu anderen Außensystemen. Parallel dazu verläuft der Prozeß der internen Differenzierung. Die neu entstandenen Teilsysteme spalten sich dabei in weitere soziale Teilzusammenhänge auf. [ 2 ] Deshalb muß zwischen horizontaler und vertikaler Differenzierung unterschieden werden.

Vertikale Differenzierung heißt, daß durch die fortschreitende soziale Arbeitsteilung die Subsistenzwirtschaft allmählich abgelöst und ersetzt wird durch die Produktion für einen unbekannten Markt. Soziale Funktionen werden dadurch differenzierter wahrgenommen und diesen werden bestimmte Personen oder Institutionen zugeordnet. Es entstehen neue soziale Schichten und eine Vielzahl von Berufen. Das bisherige einheitliche Werte- und Normensystem löst sich zugunsten eines berufs- und schichtspezifischen Normen- und Wertepluralismus auf. Gleichzeitig schieben sich zwischen den Gesellschaftsmitgliedern vertikale Kommunikationsbarrieren ein. [ 3 ]

Bestehen segmentäre Gesellschaften noch aus relativ unverbundenen autarken Einheiten, so treten diese jetzt im Zuge horizontaler Differenzierung insofern in einen funktionalen Zusammenhang, als Teilgesellschaften zum größeren Ganzen, auf politische Einheiten bezogen, in der Regel zu Nationalstaaten zusammengefaßt wurden. Zur Bestandserhaltung müssen sich diese wiederum notwendig gegen andere Nationalstaaten abgrenzen. Dieser integrative Prozeß der Nationenbildung geht jedoch, historisch gesehen, nicht schmerzlos vonstatten, zumal die empirischen Grenzen dieser oft künstlichen mit Macht zusammengehaltenen Gebilde nur selten dem Selbstverständnis und den Zielen der in ihnen wohnenden Volksgruppen entsprechen. Nicht zuletzt darin ist die Ursache für die Wiederbelebung europäischer Regionalbewegungen zu suchen.

Traditionelle segmentäre Gesellschaften werden dabei mittels vertikaler und horizontaler Differenzierung im Zuge der evolutionären Gesellschaftsentwicklung zugunsten von gegliederten und aufeinanderbezogenen funktionalen Gesellschaften abgelöst. Dennoch schließt die funktionale Differenzierung auch eine segmentäre Differenzierung in gleichen Teileinheiten nicht aus, diese lassen sich vielmehr miteinander kombinieren. Allerdings werden dabei die Teileinheiten in untergeordnete Stellungen verwiesen und müssen zudem noch funktional gerechtfertigt werden.

Luhmann sieht in regionaler Hinsicht mit vorherrschender funktionaler Differenzierung eine segmentäre Primärdifferenzierung sozialer Realitäten in der Mehrzahl gleicher Regionalgesellschaften als unhaltbar an. Als Interaktionssubstrat behält zwar die Region oder der Raum trotz aller technischen Errungenschaften seine Bedeutung, ob jedoch die räumliche Größe ohne Gesellschaftsgrenzen weiterhin das primäre Differenzierungsschema sozialer Realität und damit Grenzprinzip der Gesellschaft sein kann, bleibt für ihn fraglich. [ 4 ]

Dem Prozeß struktureller Differenzierung, von einfachen zu komplexeren Gesellschaften, entspricht ein ähnlicher Vorgang bei Individuen. In der arbeitsteiligen hochkomplexen Gesellschaft ist das Individuum mit den übrigen Mitgliedern nur mittelbar verbunden. Die Grenzen und der Umfang der Gesellschaft sind für ihn nicht direkt einsichtig, überschaubar oder erlebbar, es tritt der Zustand der Entfremdung ein. [ 5 ] Zur funktionierenden "komplexen Persönlichkeit" bedarf es daher einer psychologischen Mobilisierung, die das Individuum zur Aufnahme neuer Ideen und Werte befähigt. Er muß sich eine eigene Meinung aneignen und auch abstraktere Probleme behandeln können. Da die bisherigen traditionellen Werte und Anschauungen personaler Identität infragegestellt werden, ist das Individuum zur Neudefinition seines Selbst und seiner sozialen Situation gezwungen. [ 6 ]

Wenn universale Systeme oder globale Strukturen zum Ziel menschlicher Entwicklung erhoben werden, dann müssen sie auch die für die Sozialisation der Menschen wichtigen alten Lebensweltstrukturen ersetzen können. In seiner Identitätsentwicklung muß aus einem voraufgegangenen Sozialisationsprozeß das Individuum bereits so reif sein, daß er sich, an bestimmte Lebensformen partikularer Gesellschaften nicht mehr gebunden, frei und bruchlos innerhalb der universellen Weltgesellschaft bewegen kann. Das setzt wiederum voraus, daß diese so pluralistisch und demokratisch strukturiert ist, daß das Individuum sich in ihr frei für bestimmte Lebensformen entscheiden kann, für eine Lebensform, von der er meint, daß diese für seine Persönlichkeitsentfaltung und Selbstverwirklichung besonders wichtig wäre.

Die mit der modernen Entwicklung verbundene Einheit und Vielfalt der Welt hat für den Regionalismusgedanken erhebliche Konsequenzen. Denn wenn der Regionalismus mit dem Universalismus der Weltgesellschaft vereinbar sein soll, dann kann dieser nicht anders als auf kulturpluralistischer Grundlage beruhen. Nur auf Basis einer Verfassung, die auf einer universalistischen Gesellschaft beruht, lassen sich die Restbestände eigenständiger regionaler Kulturen und Traditionen vor den zerstörerischen Einflüssen der universal wirkenden imperativen Modernisierung schützen und bewahren. Dasselbe gilt für alle überlieferten Kulturgüter, die sichtbarer Ausdruck jahrhundertelanger wertschaffender Arbeit sind. In der Beurteilung stehen sie allerdings für sich alleine da und müssen nicht unbedingt den uns gewohnten westlichen Rationalitäts- und Beurteilungskriterien entsprechen. Aber auch westliche Maßstäbe können durchaus partikular sein und müssen nicht unbedingt mit den universalen moralischen oder ästhetischen Maßstäben einer möglichen Weltgesellschaft übereinstimmen.

Vielleicht lassen sich eines Tages allgemeine und universelle Kriterien entwickeln und durchsetzen, die für jeden von uns, die für alle Menschen gelten und an denen auch vergangene Gesellschaftsformationen beurteilt und gemessen werden können. Dennoch sind der Durchsetzung allgemeiner und universaler Normen und Wertemaßstäbe, insbesondere was die sogenannte Letztbegründbarkeit und die daraus resultierende absolute Wahrheitsfähigkeit angeht, Grenzen gesetzt. Denn die beanspruchte Geltung beruht auf einem intersubjektiv geteilten Konsens. Die Utopie einer pluralistischen Weltgesellschaft [ 7 ] sollte zudem in der Lage sein, ein friedliches Zusammenleben der Menschen untereinander zu ermöglichen. Und in ihr sollten auch Meinungen andersartiger Minderheitsgruppen toleriert werden, auch wenn sie unseren westlichen Wertmaßstäben diametral entgegengesetzt sind. In Gegensatz zu den partikularen Systemen liegt dem universalistischen System kein geschlossenes Weltbild zugrunde.

Anmerkungen

[ 1 ]
) Vgl. Gerhard Wurzbacher, Der Übergang zur personen- und organisationsbestimmten Gesellschaft, in: ders. (Hrsg.), Das Dorf im Spannungsfeld industrieller Entwicklung, Stuttgart 1954, S. 283

[ 2 ]
Vgl. Karl Otto Hondrich, Sozialer Wandel als Differenzierung, in: ders. (Hrsg.), Soziale Differenzierung, Ffm/NY 1982

[ 3 ]
Vgl. Dieter Fröhlich, S. 476

[ 4 ]
Vgl. Niklas Luhmann, S. 60 f.

[ 5 ]
Vgl. Dieter Fröhlich, S. 476 ff.

[ 6 ]
Vgl. ebd., S. 477

[ 7 ]
Vgl. dazu Johan Galtung, Pluralismus und die Zukunft der menschlichen Gesellschaft, in: Dieter Senghaas (Hrsg.), Kritische Friedensforschung, Ffm 1971, S. 164 ff.


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Inhalt der Diplomarbeit

Einleitung
Neueinleitung
Modernisierung
Moderne Gesellschaften
Integration und Weltgesellschaft
Das Weltwirtschaftssystem
Das internationale politische System
Differenzierung und Regionalismus
Regionalismus und soziale Bewegungen
Zur Entstehung von Regionalkulturen
Europäische Regionalbewegungen
Regionale Wirtschaftsentwicklung
Alternative Regionalpolitik
Nordfriesland
Zur Geschichte Nordfrieslands
Zur Sprache Nordfrieslands
Schlußbemerkungen
Literaturverzeichnis

Anhänge

Der Nationalismus
Staat, bürgerliche Gesellschaft und Rätedemokratie


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